Eine Geschichte von der Neugier auf das Leben,
dem Abenteuer des Vertrauens
und der Kraft der Freundschaft
In einem kleinen Seitental der Mosel lebte inmitten von vielen anderen Bäumen ein kleiner Baum, der furchtbar neugierig war – auf das Leben und alles, was dazu gehört.
Äußerlich unterschied er sich gar nicht so sehr von den anderen Bäumen und er fühlte sich auch wohl zwischen ihnen – aber tief in sich spürte er eine Neugier auf all das, was er nicht sehen konnte. Denn der neugierige kleine Baum war noch sehr klein und hatte noch keinen so rechten Überblick.
Der neugierige kleine Baum hörte zwar das Plätschern des Baches, aber sehen konnte er ihn nicht. Er konnte hören, wie die Eichhörnchen am Wasser spielten, nur ihnen dabei zusehen konnte er nicht. Manchmal hörte er sogar das Getrappel der Hirsche, die am Wasser eine Rast einlegten und immer wieder meinte er, der Bach wolle ihm mit seinem Murmeln und Gurgeln eine Geschichte erzählen.
So gerne hätte er all das auch einmal gesehen!
Jeden Tag fragte er daher seinem Freund, dem großen Baum, der neben ihm in die Höhe wuchs, Löcher in den Bauch: „Was war das für ein Geräusch?“, „Und was siehst du jetzt?“, „Sind die Wildschweine wieder da?“.
Der große Baum ächzte und stöhnte zwar ob der vielen Fragen, aber beantwortete sie alle geduldig. Ganz nüchtern erzählte er, was er sah.
Der neugierige kleine Baum aber spann in seinem Kopf die wildesten Geschichten drumherum.
In seiner Fantasie trafen sich die Vögel am Bach, um sich für eine lange Reise zu stärken oder sich gegenseitig Tipps für den bevorstehenden Winter zu geben. Der Bach selbst erzählte ihm, wie beschwerlich seine Reise manchmal sei, aber auch wie viel Spaß sie ihm mache. Manchmal müsse er sich seinen Weg über Steine und Bäume hinweg bahnen, manchmal ginge es durch enge Schluchten und steil bergab und manchmal würde er sich ganz viel Zeit lassen, um den Tieren des Waldes zuzuhören. Und manchmal würde er mit den Kieselsteinen eine Wette eingehen: Wer am schnellsten um die nächste Kurve komme, der dürfe den ganzen nächsten Tag bestimmen, was gemacht wird.
Aber je mehr sich der neugierige kleine Baum mit der Welt, die er nicht sehen konnte, beschäftigte, desto größer wurde sein Wunsch, all das auch einmal selbst zu entdecken. Und so strengte er sich furchtbar an, um größer zu werden. Jeden Morgen streckte und reckte er sich und versuchte, seine Zweige noch ein bisschen weiter in die Höhe zu schieben. Und so wurde der neugierige kleine Baum tatsächlich jeden Tag ein kleines bisschen größer.
Dabei vergaß er aber nie, seine Geschichten zu erzählen, sondern diese wurden immer abenteuerlicher und spannender. Schon lange hörte ihm dabei nicht mehr nur der große Baum zu, sondern auch die Tiere des Waldes ließen sich gerne bei ihm nieder und lauschten seinen Erzählungen.
Aber so sehr der neugierige kleine Baum auch die Gesellschaft der anderen genoss, seine Neugier wollte einfach nicht kleiner werden. Ganz im Gegenteil, nun fragte er auch die anderen Tiere aus und jede Antwort ließ seine Neugier auf die Welt da draußen weiterwachsen.
Jeden Abend vor dem Einschlafen sagte er sich: „Morgen, morgen kann ich ganz bestimmt den Bach sehen.“ Dieser Wunsch war so groß, dass der neugierige kleine Baum seine ganze Energie darin steckte, weiter in die Höhe zu wachsen.
Und so wurde der neugierige kleine Baum von nun an zwar jeden Tag ein kleines Stückchen größer, begann aber auch gleichzeitig immer mehr zu wackeln und zu schwanken. Schon ein kleiner Sturm konnte ihn ganz gehörig aus dem Gleichgewicht bringen.
Langsam, aber sicher bekam er es mit der Angst zu tun und seine Zuversicht wandelte sich in Verzweiflung. Er verlor seine Sicherheit und den Glauben, es zu schaffen. Denn egal, wie groß er wurde, immer waren die anderen Bäume um ihn herum größer und verstellten ihm die Sicht. Der neugierige kleine Baum wurde immer stiller, seine Geschichten verloren an Kraft und hörten schließlich ganz auf.
Der große Baum und die Tiere des Waldes aber vermissten den neugierigen kleinen Baum und seine fröhlichen Geschichten. Und so fragten sie ihn eines Tages, warum er denn so still sei. Da sagte der neugierige kleine Baum, dass er Angst habe weiter zu wachsen und sicher ehr umfallen würde als den Bach zu sehen und fing bitterlich an zu weinen. Das wiederum ging den Freunden des neugierigen kleinen Baumes so sehr zu Herzen, dass sie beschlossen, ihm zu helfen.
Eifrig fingen sie an, Pläne zu schmieden und nach vielen verworfenen Gedanken hatte schließlich der große Baum die rettende Idee: Wenn er den kleinen Baum stützen würde, dann könne sich dieser an ihn anlehnen und sich so schließlich an ihm vorbei schmiegen. Und dann, dann bekäme der neugierige kleine Baum endlich den Bach zu sehen und sein Herzenswunsch würde in Erfüllung gehen.
Die Tiere des Waldes fanden die Idee fantastisch und beschlossen, diese sofort in die Tat umzusetzen. Voller Enthusiasmus weihten Sie den neugierigen kleinen Baum in ihren Plan ein und redeten dabei alle wie wild durcheinander. Sie baten ihn, seinem Freund, dem großen Baum zu vertrauen, mutig zu sein und auch ein bisschen Geduld mitzubringen.
Der neugierige kleine Baum wurde zuerst ganz stumm vor Freude und dann kullerten ein paar Tränchen seinen Stamm herunter – aber das waren Freudentränen. Weil sich seine Freunde so sehr angestrengt hatten, ihm zu helfen, beschloss er das Abenteuer einzugehen.
Und so vertraute er ihnen, bog sich im Wind und lehnte sich jeden Tag ein Stück mehr an den großen Baum. Seine Freunde unterstützen ihn, wo sie nur konnten, und ermutigten ihn, sich immer weiter vorzutrauen. Mit jedem Zentimeter, den er wuchs, stieg seine Spannung. Seine Geschichten kamen zurück und er war voller Zuversicht, dass er bald den Bach sehen könne.
Und dann eines Tages war es so weit: Der neugierige kleine Baum war endlich groß genug, um hinunter auf den Bach sehen zu können. Schon so lange hörte er sein Plätschern und nun endlich konnte er das klare Wasser auch sehen. Er konnte endlich sehen, wie sich all die Bäume im Wasser spiegelten, wie kleine Lichtreflexe das Wasser zum Glitzern brachten und wie sich die Tiere am Wasser erfrischten. Vor lauter Staunen bekam er ganz große Augen. So schön hatte er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Voller Freude bog er sich im Wind und raschelte laut mit seinen Blättern.
Von nun an entdeckte der neugierige kleine Baum jeden Tag neue Dinge und konnte wieder voller Begeisterung seine Geschichten erzählen. Denn der Bach war nie derselbe: Mal war er ganz wild und hüpfte über die Steine hinweg, mal hingegen schien es ihm schwerzufallen, vorwärtszukommen. Manchmal schien er die Tiere mit seinem Geplätscher zu unterhalten und an anderen Tagen war er ganz ruhig und die Tiere schienen ihm Mut zuzusprechen und ihn über die Steine hinweg zu tragen.
So Vieles gab es zu entdecken, dass dem neugierigen kleinen Baum nie die Geschichten ausgingen.