MOMENT.MAL.
Es gibt Orte, die sind besonders. Die haben eine immense Kraft und Ausstrahlung.
Die achteckige Wallfahrtskirche Santa Maria de Eunate ist so ein Ort. Dabei war ich doch so skeptisch:
Es ist der letzte Tag auf dem Camino Aragonés und die Stimmung ist ein wenig merkwürdig: In der Luft tanzen die Blütenpollen wie Schneeflocken und unsere kleine Gruppe hat sich weit auseinandergezogen. Ich merke, wie ich immer schneller werde und mag doch eigentlich gar nicht ankommen. Und gleich soll diese Kirche kommen, von der Stefan schon so viel erzählt hat. Aber kann ein Ort, der für jemand anderen so besonders ist, auch für mich zu einem besonderen Ort werden? Quasi mit Ankündigung? Die Orte, die mich bisher nachhaltig berührt haben, haben doch ehr mich gefunden – der kleine unspektakuläre Abtsgarten auf dem Mosel-Camino zum Beispiel. Ich habe sie nicht gesucht und schon gar nicht wurden sie mir angekündigt. Vielleicht widerstrebt es mir auch einfach, dass eine der wenigen richtigen Touristenattraktionen auf dem Weg solch eine besondere Kraft haben soll. Erwartung und Skepsis mischen sich in mir, Vorfreude und Zweifel.
Und dann taucht sie plötzlich vor mir auf. Mitten im Nichts und dennoch irgendwie würdevoll eingebettet in die Landschaft. Ich lasse die Szenerie auf mich wirken und staune. Denn vom ersten Moment an zieht mich dieser Ort in seinen Bann, ohne dass ich genau beschreiben könnte, warum. Schritt für Schritt nähere ich mich dem kleinen Bauwerk und muss dort angekommen als erstes meine Hände auf die Steine legen, mich verbinden mit dem Ort, spüren was ihn ausmacht. Ich gehe einmal langsam rund herum und lasse alles auf mich wirken.
Die Kirche selbst ist geschlossen und irgendwie bin ich fast ein bisschen erleichtert: Ich muss also gar nicht mehr herausfinden, welche Wirkung dieser Ort noch auf mich haben könnte.
Aber es kommt, wie es kommen soll: Eine Busgruppe ist im Anmarsch und die Kirche wird geöffnet. Also dann.. Wieder kämpfen zwei widerstrebende Gefühle in mir. Auf der einen Seite bin ich neugierig und möchte diesen Raum erspüren und auf der anderen Seite auch wieder nicht. Kann dieser Ort mit den vielen Menschen noch seine Kraft entfalten und mich ganz persönlich erreichen?
Er kann! Sicher ist und bleibt das Erleben eines Ortes etwas ganz Persönliches, aber ich habe tatsächlich auch das Gefühl, dass hier jeder seinen ganz eigenen Raum findet und all die unterschiedlichen Emotionen einfach da sein dürfen. Mehr noch als der Kircheninnenraum packt mich zum Beispiel der offene Kreuzgang, der die Kirche umgibt. Licht und Wind, Stille und Geräusche, Steine und Leben scheinen hier miteinander zu verschmelzen. Staunend gehe ich zwischen den Säulen umher, fasse immer wieder das Mauerwerk an und entdecke plötzlich in den Mauerritzen ganz viele kleine Zettel. Lauter Gebete, Anliegen, Wünsche und vielleicht auch Anklagen, die hier zwischen den Steinen ihren Platz gefunden haben.
Auch ich spüre plötzlich ganz deutlich, dass ich hier etwas ablegen und zurücklassen muss. Der Weg hat soviel gelöst, manches davon möchte ich nicht mit zurück nehmen. Ich möchte loslassen, was ich nicht mehr brauche und was mich hemmt. Einen Zettel habe ich zwar nicht bei mir, aber wieder kommt es, wie es kommen soll und meine Füße stoßen auf lauter lose kleine Steinchen. Fast schon ein bisschen ehrfürchtig hebe ich sie auf und setze meinen Gang fort. In den folgenden Minuten findet der ein oder andere Stein von mir hier seinen Platz und scheint eine Lücke zu füllen. Irgendwie habe ich das Gefühl, damit ein Teil dieses Ortes zu werden und fühle mich erleichtert.
Ich merke, wie der Moment mich berührt und suche ganz automatisch Rückhalt an einer der Säulen. Mit geschlossenen Augen stehe ich da und plötzlich kullern die Tränen über mein Gesicht. Aufhalten kann ich sie nicht, will ich auch gar nicht. Ich spüre, wie der Wind mein Gesicht streift und fühle mich…. Ich weiß nicht, irgendwie fehlen mir die Worte für dieses Gefühl.
Ich kann nicht erklären, was da an dieser kleinen Kirche und an diesem Tag passiert ist. Immer noch nicht. Ich kann nur akzeptieren, dass es Momente und Orte gibt, die mich ausfüllen und die mich in meinem Innersten ergreifen. Die mein Herz berühren und sich tief in mein Gedächtnis eingraben. Vielleicht sind es genau diese Momente, die mich voller Freude auf die nächste Pilgertour schauen lassen.