Camino del Norte

Der Tag des Ankommens. Der Tag des Kennenlernens. Der Tag vor der ersten Etappe. Der Tag des ersten Mutausbruchs.

Ein neuer Weg nimmt seinen Anfang: 10 Etappen von Irun nach Bilbao und ca. 160 km Jakobsweg liegen vor mir. Aber das ist nur der äußere Weg. Der innere Weg, der wird viel länger, breiter, tiefer. Die nächsten Tage werde ich mit Themen wie Heilung, Wertschätzung und Abschied in Berührung kommen und beginnen, mich wiederzufinden. Aber noch weiß ich nichts davon. Noch überwiegt das Bauchgrummeln:

Selten habe ich mich vor einer Reise so wenig mit einem Weg, seinen Etappen und seinen Highlights beschäftigt, wie dieses Mal. Selten war ich so kurz davor, eine Reise abzusagen und mich zurückzuziehen – einfach weil mein Alltag so turbulent und fordernd war. Und ja, selten habe ich der Vorfreude so wenig Raum gelassen wie vor dem Camino del Norte. Eigentlich war ich sogar ehr skeptisch: Kann das überhaupt was werden? Ist dieser Weg gerade jetzt für mich dran? Bin ich in der Gruppe richtig und bin ich bereit, alles Negative loszulassen und mich einzulassen?

Und dann ist er da: der Morgen des Aufbrechens und plötzlich sind sie doch da: die Aufregung und die Vorfreude.

Es ist kalt da draußen und spontan entscheide mich, meine Regenjacke dann doch noch mitzunehmen und auch gleich anzuziehen. Überhaupt habe ich fast alles an, was ich dabei habe. Mein Rucksack ist also leicht, richtig leicht. Oder anders gesagt: Da ist viel Platz für Essen – wie wir später dann immer wieder gerne feststellen werden 😃.

Am Flughafen Düsseldorf treffe ich meine erste Mitpilgerin, Maria, und ich weiß sofort: Das ist ein Mensch, mit dem man gut sein kann und bei dem man sein darf. Maria empfindet es wohl ähnlich und wird später sagen: „Da ist mir eine geballte Form von Herzlichkeit entgegengekommen 💛.“

Stefan, Susanne und Martina treffen kurze Zeit später ein. Und da sind sie nun, unser Pilger-Coach und meine drei Mitpilgerinnen. Vier Menschen, die ich nach den zehn Tagen aus meinem Leben gar nicht mehr wegdenken mag. Muss ich ja aber zum Glück auch nicht.

Der Check-In ist langwierig und es geht kaum was vorwärts. Am Ende dürfen wir in der Schlange vorrücken, können unsere Rucksäcke aufgeben und verquasseln dann fast doch noch den Abflug. Na ja, ausgerufen wurden wir noch nicht 😉.

Zu diesem Zeitpunkt fällt mir alles noch schwer: Mir fehlt der Zugang zu mir selbst und ich bin verunsichert, fühle mich dünnhäutig und verkrampft. Und ich halte mich zurück – wie um mir selbst zu beweisen, dass dies nicht mein Platz, mein Weg ist. Dabei ist die Sehnsucht, unterwegs zu sein und ein Teil von etwas zu sein doch riesengroß und eigentlich möchte ich nur hören: „Schön, dass du dabei bist“. Ja, im Rückblick sehe ich vieles klarer. In diesem Moment aber hadere ich noch mit mir selbst und so manchem. Wo ist meine Leichtigkeit hin? Wo die Unbeschwertheit? Wo meine Unabhängigkeit? Wo mein Strahlen?

Im Flugzeug dann die ersten Versuche, meine Gefühslage in Worte zu fassen. Und zum Glück bekomme ich auch Worte wie „Ich bin froh, dass du nicht abgesagt hast“ zu hören. Da wird es mir gleich ein bisschen leichter ums Herz.

Und dann sitzen wir im Bus nach San Sebastian – fast. Denn vorher steht noch der komplizierte Ticketkauf über die App an. Als das erledigt ist, dürfen wir allerdings immer noch nicht einsteigen. Erst müssen noch die Rucksäcke im Gepäckfach verstaut werden. Aber auch danach dürfen wir noch nicht einsteigen und werden rigoros zurückgewiesen: Jetzt müssen die in der App erworbenen Tickets erst noch aktiviert werden. Als alle fünf Tickets endlich ein grünes Häkchen haben, werden wir gnädig durchgewunken. Nicht, ohne dass man uns darauf hinweist, dass wir im Bus auf gar keinen Fall unser mitgebrachtes Essen verzehren dürfen. So wie wir dabei angeschaut werden, erwartet uns bei Widersetzen mindestens eine mehrmonatige Gefängnisstrafe. Wir sind aber sehr sehr hungrig und lassen es darauf ankommen: Ganz heimlich und seeeehr unauffällig, geduckt hinter der Lehne der jeweiligen Vordersitze, verdrücken wir ein paar von Susannes leckeren Energiebällchen. Gesehen hat’s zum Glück keiner 😉.

Eine gute Stunde später sind wir dann da – in San Sebastian – und machen uns vom Busbahnhof auf in Richtung Meer. Allein schon der Anblick der sanft an den Strand schlagenden Wellen reicht aus, um noch ein bisschen mehr Druck von meinem Herzen zu nehmen. Kann es so einfach sein? Scheinbar schon, denn es ist, wie es immer ist, wenn ich ans Meer komme: Kaum bin ich da, kommt das Kind in mir zum Vorschein und ich muss den Sand zwischen den Zehen spüren und fühlen, wie das Salzwasser meine Füße umspült. Es ist April, wir haben irgendetwas zwischen 10 und 16 Grad und der Atlantik ist erfrischend – aber nicht so kalt, wie ich dachte. „Nicht? Dann können wir ja rein“, meint Stefan. Und zack, kaum ausgesprochen, schon drin. Ok, diese Herausforderung kann ich nicht auf mir sitzen lassen: Keinen Gedanken verschwende ich daran, dass dies der Stadtstrand ist, außer ein paar Surfern in Neoprenanzügen kein Mensch im Wasser ist oder ich hinterher das nasse Zeug irgendwie wieder loswerden muss. Es ist mir alles egal und endlich mal weiß ich ganz genau, was ich möchte: ins Wasser und mich lebendig fühlen. Spontan sein. Frei sein. Zu jeder Verrücktheit bereit. Also, Bikini an und zack, rein: Ok, es ist doch ganz genauso kalt wie ich dachte. Aber eben auch herrlich erfrischend!

Mut tut gut

Ich strahle bis über beide Ohren. Was so ein bisschen Salzwasser doch bewirken kann. Oder ist es gar nicht das Salzwasser, sondern dieses „Machen. Einfach machen“? Mir war in diesem Moment einfach klar, dass ich da rein muss. Jetzt! Und nicht darauf warten möchte, ob sich vielleicht noch eine bessere Gelegenheit ergibt.

„Das war so mutig“ meint Susanne später. „Salz, Sand, Temperaturen – das war dir alles egal. Du bist da einfach rein“. Meine Nichte, eine richtige Wasserratte, schreibt mir: „Ich bin stolz auf dich. Jetzt bin ich richtig stark beeindruckt“ und von meiner Freundin bekomme ich zu lesen: „Wie großartig. Du bist so stark und mutig.“ Komisch, ich habe mich gar nicht sonderlich mutig gefühlt – aber vielleicht war dies ja tatsächlich mein erster Mutausbruch auf diesem Weg. Und ja: Mut tut gut 😊!

Lange dauert das Bad allerdings nicht und hinterher bin ich auch flugs abgetrocknet und wieder angezogen. Für die Füße gibt es eine Fußdusche am Rand des Strandes, so dass auch diese schnell wieder eingepackt werden können. Nur meine Hände, die mir bei Kälte so viel Probleme bereiten, wollen und wollen nicht wieder warm werden. Auch daran habe ich vorher nicht gedacht. Aber zum Glück ist es nicht weit bis zu unserer Unterkunft und nach einer warmen Dusche ist auch dieser Teil von mir wieder lebendig.

In der Altstadt von San Sebastian lassen wir den Tag ausklingen. Mit Pintxos (der baskischen Version der Tapas) und Kalimotxo.

Aber dieser erste Tag war so intensiv, dass ich ganz plötzlich nicht mehr kann und mir der Kreislauf wegbricht. Ich höre die anderen nur noch wie aus weiter Ferne und weiß, ich muss zurück in die Unterkunft, Füße hochlegen und ausruhen. Durchatmen und loslassen. Und so ist dieser Tag, der Tag vor der ersten Etappe, dann schnell zu Ende. Was wohl der nächste Tag bringen wird?