Camino del Norte
Etappe 1 – Irun – Hondarribia – Postigu Nekazalturismoa (unsere Unterkunft irgendwo in den Hügeln des Baskenlandes)
„Kaixo“ heißt „Hallo“
Es ist der erste Tag auf dem Camino del Norte und wir sind irgendwie schon mittendrin und doch noch gar nicht losgelaufen: Heute früh ging es mit dem Zug von San Sebastian nach Irun und der erste Gang dort führte uns in die Markthalle mitten in der Stadt. Hier und im benachbarten kleinen Supermarkt decken wir uns mit Brot, Käse, Chorizo, Obst und vielen weiteren Leckereien ein. Aus irgendeinem Grund wähle ich den Supermarkt – dabei wäre ich doch eigentlich viel lieber in der Markthalle. Gründe dafür gibt es viele, nicht alle sind mir zu diesem Zeitpunkt klar. Aber ich merke, dass ich mich immer noch sehr unsicher fühle – generell und in der Gruppe. Und dann ist da auch noch die Sprachbarriere, die hier in der Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien noch mal größer zu sein scheint: Wir sind im Baskenland und voller Stolz wird baskisch gesprochen. Eine Sprache, die nicht nur als Europas älteste Sprache gilt, sondern auch keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeiner anderen Sprache der Welt aufweist. Herleiten ist also nicht und so bleiben die Worte mit den vielen „K“s,“ X“s und „Z“ s oft ein Rätsel.
Ich rätsle aber nicht nur über die Worte, sondern auch ein bisschen über mich selbst: Wann bin ich so ängstlich geworden? Ja, ok… Ich bin noch die gewesen, die mit einem lauten „Hallo, hier bin ich“ auf Menschen zugegangen ist. Aber mich mit Sprache und Worten zu beschäftigen, auf Reisen Neues zu erkunden – das hat mir immer so viel Freude bereitet. Warum also gerade jetzt diese Zurückhaltung? Später werde ich verstehen, was meinem vorsichtigen Herantasten zu Grunde liegt – aber das ist erst viel später Thema.
Inzwischen weiß ich immerhin schon mal, dass „Kaixo“ – ein Wort, das immer und überall zu lesen ist – „Hallo“ heißt.
La vida es bella!
Und nun, kurze Zeit später, sitzen wir mit unseren vollgepackten Rucksäcken im Café unter einem der großen Sonnenschirme – oder sollte ich besser sagen Regenschirme? Der Regen fällt unaufhörlich vom Himmel: mal sanft tröpfelnd, mal laut plätschernd, aber eben unaufhörlich. Noch stört er uns nicht, denn wir sitzen im Trockenen und genießen unseren ersten café con leche bzw. café americano bzw. café americano con un poco de leche 😄. Dazu ein herrlich buttriges Croissant: La vida es bella ☕🥐💛!
Ab und an lassen die Kellner das Wasser von den Nachbarschirmen ab, das sich als hörbarer Schwall auf den Asphalt ergießt. Loslaufen oder vielleicht doch noch lieber eine zweite Tasse Kaffee? Die Wahl fällt nicht schwer, denn erst für 11 Uhr sagen unsere Wetter-Apps ein Regenende voraus.
Gerade als ich aufstehe, um die warmen Getränke zu bestellen, zieht Stefan einen großen Ordner aus seinem Rucksack: Moment mal, wir haben da noch was zu besprechen… 😉. Vor allem aber bekommen wir ein paar Dinge mit auf den Weg: liebe Wünsche, ein Zitat und eine Frage, die mich ganz am Anfang dieses Weges gleich ganz ans Ende katapultiert: „Was möchtest du am Ende dieses Weges mitgenommen haben, was möchtest du deinen Freunden erzählen?“
Eine nach der anderen stellen wir uns dieser Frage und bei den Antworten beginne ich zu ahnen, dass ich bisher nur einen ganz ganz kleinen Teil der Menschen zu sehen bekommen habe, die mit mir diesen Weg gehen. Da verbirgt sich noch so viel mehr. Ich staune und während ich noch auf der Suche nach meiner Antwort bin, vergesse ich fast das Atmen und muss erst daran erinnert werden: „Ausatmen, Katja, ausatmen.“ 😄
Und plötzlich fallen die Worte quasi aus meinem Mund: Am Ende dieser Reise möchte ich den Stein losgeworden sein, der auf meinem Herzen liegt. Ich möchte mein Strahlen wiedergefunden haben und sagen können, dass ich mutig war und offen – offen für Begegnungen und für alles, was da kommt.
Martina hat es in ihrer Antwort so treffend beschrieben, dass ich gar keine weiteren eigenen Worte mehr brauche: „Da ist so vieles, was vor dir liegt. Fülle es! Gestalte es! Entdecke es!“ 💛
Ich merke, dass in meinem Herzen eine ganz große Dankbarkeit ist. Dafür, dass mich meine Schwester – bei all dem Trouble, der mit dem Einzug unserer Mutter ins Pflegeheim einhergegangen ist – diesen Weg gehen lässt und mir noch einen wunderbaren Wunsch mit auf den Weg gegeben hat: „Lauf dich frei“!
Und genau damit möchte ich jetzt anfangen. Denn ja, ich denke, es ist Zeit, loszulaufen und das, was vor mir liegt, zu entdecken. Jetzt!
Also: „La cuenta por favor“ und nichts wie LOS!
Es war mir ein Vergnügen
Es ist fast Mittag als wir unsere Rucksäcke schultern, die Regencapes anziehen und losmarschieren. Aber nicht ohne unseren Pilgersegen:
„Gesegnet bist du am frühen Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen, die dir zärtlich das Gesicht streicheln. Gesegnet bist du durch das Licht, den Boten des Lebens, das dich zu Beginn des Tages grüßt. Gesegnet bist du, trotz aller Dunkelheit in deinem Leben, denn hier wünsche ich dir, nie die Sehnsucht nach dem Licht zu verlieren. Gesegnet bist du mit Jesus Christus in deinem Leben, der von sich selbst gesagt hat: Ich bin das Licht der Welt. Gesegnet bist du mit der Kraft des Lichtes in deinem eigenen Leben.“
Während wir so im leichten Nieselregen stehen, lässt mich der Gedanke, dass ich den Regenschutz schon mal nicht vergebens mitgenommen habe, schmunzeln. Aber noch mehr freue ich mich darüber, dass der Regen spürbar nachgelassen hat 😊! Kann das denn wahr sein? Sofort muss ich an das Zitat von Veit Lindau denken, das wir mit auf den Weg bekommen haben:
„Nichts ist zu gut, um wahr zu sein“ 💛💛💛
Was für ein schöner Satz!
Wie oft bekommen wir zu hören oder sagen wir selbst „Das ist zu schön, um wahr zu sein“, so als ob wir gar nicht daran glauben können oder wollen, dass all das Schöne und Gute, das wir erleben, uns wirklich widerfährt. Haben wir das verdient? Und dieser Satz sagt nun genau das Gegenteil, ist quasi eine Liebeserklärung an das Leben, das Gute, das Schöne, das Wahre. Wir dürfen mit offenem Herzen und offenen Händen all das empfangen, was uns gegeben wird und genießen – denn es ist für uns. Ich muss an ein Zitat von Lothar Zenetti denken, das ich im Park der HEGGE zum ersten Mal gelesen habe:
„Einmal wird uns gewiß die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein und das Rauschen der Blätter,
die sanften Maiglöckchen und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras und die Schmetterlinge,
für die Luft, die wir geatmet haben, und den Blick auf die Sterne
und für all die Tage, die Abende und die Nächte.Einmal wird es Zeit, dass wir aufbrechen und bezahlen;
bitte die Rechnung.Doch wir haben sie ohne den Wirt gemacht:
Ich habe euch eingeladen, sagt der und lacht,
soweit die Erde reicht:
Es war mir ein Vergnügen!“
Und so geh nun deinen Weg…
Auf dem Weg hinaus aus Irun fällt mir so vieles ins Auge, dass ich alle Naselang stehen bleiben könnte: Da sind nicht nur die hübschen Blumen, die diesem grauen Tag Farbe verleihen, sondern auch die vielen spannenden Häuser – mal bemalt wie für eine Filmkulisse, mal ganz schlicht und solide und mal ganz verfallen… und immer wieder mit den für das Baskenland so typischen Holzbalkonen, die oft farbenfroh gestrichen sind.
Auch das ein oder andere merkwürdige Zeichen und Schild fällt mir auf – ja, die baskische Sprache lässt viel Raum für Interpretationen 😉. Das Zeichen für den Jakobsweg hingegen ist unverkennbar und braucht eigentlich keine Erklärung, die aber dennoch oft in zwei Sprachen – auf baskisch und spanisch – unter der Muschel und dem Pilgerstab zu lesen ist: Donejakue bidea und Camino de Santiago.
Wir sind kaum drauf auf dem Jakobsweg, da verlassen wir ihn aber schon wieder – wenn auch nur für einen kurzen Abstecher. Hondarribia heißt unser Ziel und erwartet uns mit einer Stadtmauer und historischen Stadttoren, herrschaftlichen Häusern und Türmen und einer großen Kirche: Santa María de la Asunción.
In dieser Kirche machen wir eine Pause, kommen zusammen und singen zum ersten Mal ein Lied, dessen Text (von Clemens Bittlinger) ich sehr berührend finde. Und so unglaublich passend für meinen Weg und meine Gefühlslage:
„Und so geh nun deinen Weg
ohne Angst und voll Vertraun.
Dass du nicht alleine gehst,
darauf kannst du baun.
Gottes guter Segen
zieht mit dir ins Land
und auf allen Wegen
hält dich seine Hand.Du bist seine Perle,
Gottes Schatz bist du,
du bist einzigartig,
und nur du bist du.
Niemand kann so lachen,
niemand weint wie du,
wenn es dich nicht gäbe,
fehlen würdest du.“
Die Zeilen bringen so einiges ins Schwingen und in mir beginnt sich alles zu drehen. Ist es der Ort? Das Lied? Die Gedanken? Der Hunger? Irgendwie bin ich froh, als wir die Kirche verlassen. Es ist gleichsam, als ob ich wieder festen Boden unter den Füßen bekomme und freier atmen kann.
Am Rande der zentral gelegenen Arma Plaza mit Blick auf den Hafen – die Grenze zu Frankreich verläuft direkt da unten im Wasser – packen wir unseren Proviant aus. Wie kann so etwas einfaches wie Brot, Wurst und Käse nur so verdammt lecker sein? Eine Frage, die wir uns im Laufe des Weges immer häufiger stellen werden…
Ein Flugzeug scheint direkt am Ortsrand zu landen und ein Blick auf die Karte zeigt: Es ist der Flughafen von San Sebastian, der da angesteuert wird und direkt zwischen Irun und Hondarribia liegt.
Nur knapp dem Hungertod entronnen…
Gut gestärkt geht es auf anderen Wegen raus aus der kleinen Stadt und wieder könnte ich alle Naselang stehen bleiben: Diesmal sind es die kleinen filigranen Mauerblümchen, der duftende Jasmin und eine Baumwurzel, die mich an Edvard Munchs „Der Schrei“ erinnert. Komisch, wo meine Gedanken an diesem Tag so überall landen.
Auf den folgenden Metern bin ich aber ganz im Hier und Jetzt, denn es geht bergauf: Vorbei an blühenden Rosen, wilden Erdbeeren, spanischen Mauerblümchen und zweifarbigen Stiefmütterchen… Die bunte Pracht mag gar kein Ende nehmen. Inzwischen hat es auch aufgehört zu regnen und es ist angenehm warm.
Unser nächstes Ziel ist die kleine Einsiedelei Santiagotxoko Ermita, die dem Apostel Santiago gewidmet ist. Leider geschlossen, wie eigentlich alle Kapellen am Jakobsweg in Spanien. Schade. Aber hier an diesem schönen Ort lernen wir Vier, die wir gemeinsam Pilgern, uns noch ein bisschen besser kennen. Bei Fragen wie „Wann fühlst du dich richtig frei? “ oder „Wann hast du das letzte Mal was richtig Verrücktes gemacht und aus vollem Herzen gelacht?“ ist das Eis schnell gebrochen.
Weiter geht es über einen schmalen Pfad, ein bisschen matschig, in Richtung unserer Unterkunft. Auf der einen Seite wächst der Farn, zusammengerollt in Schneckenform, auf der anderen Seite ranken sich Blätter in Herzform an den Zäunen hoch. Zwischendurch Kühe, Pferde und bunte Wiesen – ländliche Idylle pur.
Unsere Unterkunft liegt ein bisschen ab vom Weg, ganz oben auf dem Berg. Das Ankommen ist herrlich und die Aussicht wunderschön. Ich genieße es, die Schuhe auszuziehen, ein bisschen Musik zu hören und umherzustreifen.
Diese erste Etappe war ein leichter Einstieg in unseren Jakobsweg und mit 8 km nicht wirklich lang. Der Tag aber war ausgefüllt und intensiv. Und er ist noch lange nicht zu Ende… Noch sehr lange nicht, denn bis unser Abendessen gebracht wird, das wir über einen Lieferdienst bestellt haben, mussten wir schon fast die ganzen Reserven für den morgigen Tag auffuttern – sonst hätte uns sicher der Hungertod ereilt. Fast schien es so, als ob wir den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hätten… 😅.
Da das Essen und die Getränke dann aber doch noch kommen, wird es ein langer Abend und die Gespräche noch einmal sehr intensiv. Sie drehen sich um Trauer und um Freundschaft und um einiges mehr, das uns beschäftigt.
Aber davon morgen mehr.