Camino del Norte
Etappe 7 – Markina-Xemein – Colegiata de Ziortza (Monasterio de Zenarruza)
Aufstehen, liebes Löwenherz!
Auch heute Morgen bin ich wieder früh wach. Mein Rucksack ist ruckzuck gepackt und da stehe ich nun in unserer schönen Ferienwohnung und weiß nicht so richtig, wohin mit mir. Ich tigere mal hierhin und mal dorthin, räume Sachen von links nach rechts und habe schon mindestens fünfmal kontrolliert, ob ich auch wirklich alles eingepackt habe. Während ich darauf warte, dass auch der Rest unseres kleinen Pilger-Trüppchens fertig wird, komme ich mir vor wie ein Zuschauer in meinem eigenen Theaterstück: Ich bin zwar da, aber irgendwie nicht dabei. Ich schaue zu – oder warte ich nur auf meinen Einsatz? Um Teil des Ensembles zu sein, muss ich doch gar nicht immer auf der Bühne stehen. Dieser Gedanke lässt mich schmunzeln und schenkt mir eine gute Portion Gelassenheit.
Meinen guten Vorsatz von gestern Abend habe ich auch nicht vergessen: Ich möchte heute mutig sein! Aber noch schläft das Löwenherz 🦁💛 in mir und mein zaghaftes “Aufstehen!” verhallt ungehört.
Die kleine Herausforderung zu Beginn des Tages
Eine willkommene Beschäftigung bietet mir die WhatsApp von Stefan, die uns heute schon in aller Frühe erreicht hat:
“Guten Morgen 😃, ich freue mich mit dir diesen neuen, einmaligen Tag zu erleben. Mit welchem Gedanken über dich bist du heute aufgewacht? Notiere ihn dir. Dann die kleine Herausforderung zu Beginn des Tages: Finde ein kleines Detail bei Dir selbst und verliebe Dich darin. Schreibe dem Detail bei Dir selbst einen Liebesbrief 💌. Genieße es!”
“Oha… Na, das kann ja spannend werden”, denke ich mir und in meinem Kopf beginnen die Gedanken wie wild durcheinander zu tanzen. Aufgewacht bin ich mit dem Gedanken: “Du musst nicht alles glauben, was du denkst.” bzw. “Du bist mehr als du denkst.” Im Hinblick auf mein Gedankenkarusell des gestrigen Abends eine willkommene Vorstellung.
Tja, und dann ist da die Sache mit dem Liebesbrief: “Vielleicht sollte ich über mein Knie schreiben”, denke ich mir mit einem ironischen Grinsen im Gesicht. Mein rechtes Knie bereitet mir so viele Probleme, ist dick und mit den Narben auch nicht wirklich schön. Aber es ermöglicht mir trotz alledem, mich fortzubewegen. Vielleicht braucht es ja Aufmerksamkeit und ein paar positive Gedanken? Oder ich schreibe über meine Füße. Ich leb gerne auf großem Fuß 😉 und mag meine Füße. Eigentlich. Im Moment allerdings schmerzt der linke Fuß und eine Blase macht mir auch zu schaffen. Also auch nicht. Meine Hände? Die Narbe im Gesicht? Da könnte ich immerhin eine lustige Geschichte zu erzählen…
Aber irgendwie fühlt sich das alles nicht richtig an und so klappe ich mein Notizbuch erst noch einmal zu. Auch dabei bin ich relativ gelassen: Das “richtige” Detail wird mich schon noch finden.
Wolkig bis heiter
Inzwischen hat Stefan alles für unseren Start in den Tag vorbereitet und nach und nach finden wir unseren Platz und schauen erwartungsvoll in die Runde.
Und dann? Ich weiß es nicht 🤔 🤷🏼♀️. Ich habe tatsächlich vergessen, was an diesem Morgen, in dieser Runde Thema war. Wurde ein Text vorgelesen? Meditiert? In meinem Kopf ist ein großes Durcheinander und die vielen Puzzleteile, die da hin und her schwirren, ergeben kein vollständiges Bild.
Ich habe den Liebesbrief Gottes im Ohr “Mein geliebtes Kind, ich kenne Dich durch und durch. Ich habe Dich geschaffen – deinen Körper und deine Seele, wunderbar und einzigartig” und einen Text von Charlie Chaplin “Als ich mich selbst zu lieben begann”. Aber wurden die Texte an diesem Morgen vorgelesen oder hole ich das wo ganz anders her? 🤔 Ich glaube, mein Löwenherz hat so laut geklopft und so viel meiner Aufmerksamkeit für sich beansprucht, dass alles andere in den Hintergrund gerückt ist.
Was ich noch weiß ist, dass wir am Ende nach der “Wetterlage” in uns drin gefragt werden. Eine Frage, über die ich mich freue, weil sie mir eine so viel differenziertere Antwort ermöglicht als es die Antwort auf die Frage “Wie geht es dir?” sein könnte. “Gut” lautet meine Antwort dann nämlich häufig. Einfach, weil es die automatische und erlernte Antwort auf die gestellte Frage ist. Meine Antwort jetzt hingegen lautet: Gerade erst ist ein Gewittersturm durchgezogen. Vieles wurde aufgewirbelt und hin und her gepustet. Noch ist der Himmel grau, aber der Wind sorgt für Bewegung und da hinten sehe ich schon eine Wolkenlücke, durch die sich die Lichtstrahlen ihren Weg bahnen.
Mut tut gut
Bevor wir aufbrechen, fasse ich mir dann endlich ein Herz und bitte die anderen um ihr Ohr. Mir fällt es nicht leicht, all das kurz und knapp in Worte zu fassen, was mir auf der Seele liegt. Aber irgendwie muss es raus. Und so erzähle ich von den Schwierigkeiten mit meinem Knie und den damit einhergehenden Ängsten. Von der OP in der Teenagerzeit und den Problemen, die ich seit ein paar Jahren immer mal wieder habe. In der schlimmsten Phase wurde ich von Facharzt zu Facharzt geschickt und musste mir viele blöde Kommentare anhören: Von “Was soll ich da machen?” über “das Bein und das Knie sind viel zu dick für eine Bandage” bis hin zu “Wandern können Sie vergessen”…. Und all das hat mir großen Kummer bereitet. Irgendwann dann (nach einer Venen-OP) schien alles wieder gut zu sein. Bis – nach einer außergewöhnlichen Belastung – die Schwellungen wieder losgingen. Inzwischen wird das Knie immer mal wieder dick und jedes Mal ist die Angst wieder da: die Angst, nicht mehr auf Wandertour gehen zu können. Und genau diese Angst ist seit gestern beinahe übermächtig. Die Schmerzen sind gar nicht so stark, aber die Angst ist dafür umso größer. Wie hoch auf einer Skala von 1 bis 10 der Schmerz sei, fragt mich Stefan. Ich überlege kurz und lande bei einer Drei. Höchstens. “Und die Angst, wo liegt die auf einer Skala von 1 bis 10?” Ich schlucke und antworte dann ehrlich: “Bei Acht.” Mindestens. Ich komme mir ein bisschen albern vor, aber genauso ist es nun mal.
“Was möchtest du, dass wir für dich tun?” werde ich gefragt und für die Antwort muss ich nicht lange überlegen: Ich wünsche mir, dass mich einfach mal jemand in den Arm nimmt und mir Halt und Trost gibt. Martina ist die erste, die bei mir ist und mich stärkt. Ich kann die Kraft ihrer Umarmung noch jetzt spüren und wie – trotz meiner Tränen – alles ein bisschen leichter wird.
Was dann folgt, kann ich auch heute noch nicht so ganz begreifen: Stefan schlägt vor, dass mir alle ihre Hände auflegen: auf den Knien, den Schultern, den Armen, dem Kopf. Ich darf einfach nur dasitzen und empfangen. Ich spüre, wie ich zitterte, aber auch wie gut mir die Berührungen tun und wie mit jedem Atemzug die Energie der anderen auf mich übergeht und ich ruhiger werde. Auch, die Worte, die Susanne dazu spricht und mir mitgibt, tragen ihren Teil dazu bei: Ich muss nicht alles alleine tragen. Ich darf loslassen und abgeben. Die Angst löst sich nicht in Luft auf, ist aber nicht mehr gar so übermächtig und ich habe das Gefühl, wieder atmen zu können. Zum Schluss streicht Stefan die negativen Blockaden/Energien über meine Arme und Beine nach unten aus. Ich weiß nicht genau, was da passiert ist, aber es hat mir unglaublich gut getan.
Wieder einmal durfte ich erfahren, wie gut es tut, mutig zu sein: Mut setzt Kräfte frei, wo die Angst blockiert. Aber Mut und Angst wirken auch immer zusammen, sind zwei Seiten einer Medaille. Dazu passen die Worte, die Stefan mir mitgibt: “Da hat sich etwas umgestülpt bei dir: Der Mut ist jetzt außen und die Angst innen.”
Stärkung für Körper und Geist
Inzwischen knurren unsere Mägen ganz ordentlich: Es ist höchste Zeit für ein Frühstück. Das gönnen wir uns im Zentrum von Markina-Xemein in der Pastelería Tate Gozotegia, einer Konditorei mit sehr sehr leckeren Schoko-Croissants 😋.
Nachdem wir im benachbarten kleinen Lädchen auch noch unsere Vorräte aufgefüllt haben, laufen wir dann endlich los. Heute liegen nur ein paar Kilometer vor uns und so macht es nichts, dass wir nach ein paar Metern direkt schon wieder anhalten: Wir betreten die Kirche Iglesia de Nuestra Señora del Carmen. Die schlichte Sandsteinfassade scheint dem Rest des Gebäudes einfach vorgesetzt zu sein, wirkt wie die Kulisse eines Bühnenbildes. Im Inneren finde ich das rechte Seitenschiff mit den dunkelblauen Wänden außergewöhnlich – oder liegt das gar nicht an der Wandfarbe, sondern an der Musik, die Stefan erklingen lässt? Was klingt wie eine Orgel und aussieht wie ein Klavier, ist ein Harmonium 😉 – das erfahre ich aber erst später. Durch das Treten von zwei Pedalen wird Luft ins Innere des Instruments geführt und durch die erzeugten Schwingungen entstehen Töne. Was sich einfach anhört, scheint gar nicht so leicht zu spielen zu sein, klingt aber dafür ganz besonders schön. Und die Musik weckt nicht nur meine Lebensgeister, sondern schenkt mir auch gleichzeitig Ruhe und Frieden.
Halt mal!
Und dann geht es wirklich los: Raus aus der Stadt und auf schönen Pfaden immer am Fluss entlang. Mal ist er links von uns, dann rechts, dann wieder links, dann wieder rechts. Über die Hälfte der heutigen Strecke begleitet uns der Artibai ibaia mit seinem fröhlichen Plätschern. Zwischendurch laufen wir an ein paar Wohnhäusern vorbei und an einer Kreuzung steht in großen Buchstaben “STOP” auf der Straße. Halt mal – kein schlechter Rat: Anhalten, sich aufhalten lassen, innehalten – Gehalten sein, Halt finden, Haltung zeigen. Gerade heute durfte ich wieder erfahren, wie gut es tut, Halt zu finden und gehalten zu sein!
Auch auf dieser Etappe begegnen uns im weiteren Verlauf wieder die Pferde mit den Kuhglocken 😉. Da es hier kaum Zäune gibt und die Tiere sich frei bewegen können, hilft das Geräusch sicher, sie wiederzufinden. Aber stört das die Tiere nicht? Ich weiß es nicht…
Der letzte Ort vor unserem heutigen Tagesziel ist Bolibar: Ein paar bunte Häuser und ein schmiedeeisernes Geländer mit der Jakobsmuschel dienen uns als Hintergrund für ein Gruppenfoto. Aber auch dieser Ort wirkt – wie so viele am Weg – wie ausgestorben, nur hier und da werden ein paar Souvenirs verkauft. Da wir kein schönes, schattiges Plätzchen für eine Pause finden, beschließen wir, bis zum Kloster Zenarruza durchzulaufen.
Mit ganzem Herzen
Mal wieder geht es bergauf: Diesmal über Stock und Stein. Zwischen den Steinen, die erst ganz ordentlich nebeneinander, dann immer unebener und ausgewaschener daliegen, sprießt das Gras in die Höhe. Am Wegesrand wachsen viele Kräuter und ab und an liegt ein rötliches Blatt in Herzform auf dem Weg.
“Wohin du auch gehst, geh mit ganzem Herzen” – dieser Spruch von Konfuzius kommt mir in den Sinn und wenn ich eines weiß, dann das: Auf diesem Weg habe ich mein ganzes Herz nicht nur dabei, sondern es ist auch weit geöffnet 💛.
Und dann sind wir auch schon da: Vor uns erhebt sich das “Colegiata de Ziortza”, das zum nationalen Denkmal des Baskenlandes erklärte Kloster Zenarruza. Die Stiftskirche ist innen ehr schlicht, wird aber von einem schönen alten, ein bisschen verfallen wirkenden Kreuzgang flankiert. Der Innenraum hat eine besondere Atmosphäre, die wir mit einem Lied zum Schwingen bringen. Stefan und Martina stimmen das Lied “Stille” an, eines der wenigen Lieder, die ich auswendig kenne und gerne mitsinge:
“Stille komm hernieder bring’ mein Herz zu Ruh’. Deine Schwingen decken alle meine Wünsche zu. Nur der eine allein soll der Wunsch meines Herzens sein.”
Nach einer Weile verlassen wir diesen geschützten Raum und suchen uns einen Platz für unser Picknick. Am Rande des Klosterkomplexes breiten wir schließlich unsere sieben Sachen aus und natürlich kann sich unser Picknick wieder sehen lassen: Das Baskenland verwöhnt uns auch kulinarisch.
Nach dieser Stärkung planen Stefan, Martina, Susanne und Maria die Tage nach unserer Ankunft in Bilbao. Mein Flieger geht schon direkt Samstag zurück, die anderen haben noch ein paar Tage Zeit, die sie gemeinsam am Meer verbringen möchten. Die Idee, eine weitere Nacht gemeinsam mit mir in Bilbao zu verbringen und dann weiterzuziehen, wird schnell verworfen und ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen und ausgeschlossen. Da sind lauter kleine Stachel, die gehörig piksen: “Es wird dich keiner vermissen” und “Du gehörst eben nicht dazu” sind Sätze, die in meinem Kopf auf- und ablaufen. Ich weiß, dass das Quatsch ist, kann diese Glaubenssätze aber auch nicht stoppen. Das Enneagramm lässt grüßen 😏. Aber ich versuche, mich nicht weiter reinzusteigern, um mir selbst das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Der Gedanke von heute Morgen “um Teil des Ensembles zu sein, musst du nicht immer auf der Bühne stehen” hilft mir dabei.
Vamos, vamos
Die Pilgerherberge, die dem Kloster angeschlossen ist, hat noch nicht geöffnet und so haben wir ein bisschen Zeit, die wir jeder für uns nutzen. Ich suche mir ein Plätzchen in einem Mauervorsprung am Rande der Kirche: Hier ist es windgeschützt und die Steine sind schön vorgewärmt. Auch Maria und Martina finden hier ihre Nische. Die Herberge soll erst um drei Uhr öffnen, aber kaum habe ich es mir mit Kopfhörern, Notizbuch und Jacken gemütlich gemacht, kommt ein beleibter Mönch auf uns zu und fragt “Albergue?”. Als wir bejahen, scheucht er uns mit einem energischen “Vamos, vamos” in Richtung Herberge. Wir haben kaum Zeit, unsere Sachen zusammenzuraffen, so eilig hat er es auf einmal. Wie die Schäfchen einer Herde sammelt er all die Pilger hinter sich, die schon da sind, und würde uns wohl auch am liebsten in das Herbergszimmer reinschieben. Frei sind aber nur noch zwei Betten und als wir mit Händen und Füßen und ein paar Brocken spanisch erklären, dass wir eine Gruppe sind und gerne zusammenbleiben möchten, ist die Reaktion eher ungehalten. Wirklich willkommen fühle ich mich nicht. Aber wir bekommen das alternative Herbergszimmer weiter unten mit den Zweier- und Dreier-Stockbetten gezeigt und dürfen dort einziehen. Die Dusche ist direkt nebenan und frei. Und wenn ich eines beim Pilgern gelernt habe, dann das: Wenn sich dir eine Gelegenheit bietet (für was auch immer), dann nutze sie 😄. Also raffe ich schnell meine Sachen zusammen und springe unter die Dusche. Zeit für eine große Klamotten-Wäsche bleibt auch noch – sind wir heute doch mal ein bisschen früher am Ziel.
Briefe voller Liebe und Persönlichkeit
Frisch geduscht suche ich mir ein Plätzchen auf der Wiese vor dem Kloster. Ein großer Stein mit der gelben Jakobsmuschel und dem Schriftzug “Done jakue bidea euskal” (baskisches Jakobsweg) gibt mir Rückhalt. Hier komme ich zur Ruhe und lese noch einmal die WhatsApp mit der kleinen Herausforderung von heute Morgen: Finde ein Detail bei dir selbst und verliebe dich darin. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich weiß, welches Detail das ist und worüber ich schreiben möchte. Ich habe Worte von Stefan im Ohr, die er mir einmal im Rahmen eines Coachings gesagt hat: “Du brauchst keine zwei Minuten, um das Besondere an deiner Dienstleistung zu beschreiben, du brauchst dafür gerade mal zwei Worte: Ich sehe!” Ja, na klar: Ich werde über meine Augen schreiben, über das Sehen und über meinen ganz speziellen Blick für die Dinge.
Wort für Wort füllt sich mein Notizbuch und ich bin erstaunt, wie leicht mir das fällt. In kürzester Zeit entsteht so ein Brief, der auf jeden Fall einen Platz in meiner Schatzkiste der Erinnerungen bekommen wird.
Auch die anderen nutzen die Zeit und so liegen oder sitzen wir verstreut auf der Wiese, gehen unseren Gedanken nach, schreiben, schlafen und/oder ruhen uns aus. Als der kleine Laden am Eingang des Klosters aufmacht, versorgen wir uns mit lauter leckeren Dingen: Klosterbier, Wein, Schokolade und Kaffee 😋. Dazu gibt es einen Stempel ins Pilgerbüchlein und dann kommen wir alle noch einmal auf der Wiese vor dem Kloster zusammen.
Die Sonne scheint warm vom Himmel und wir genießen unsere Gemeinschaft. Das Vertrauen zwischen uns ist groß und so lesen wir uns ganz selbstverständlich unsere Liebesbriefe vor. Jeder Brief für sich ist einzigartig und wunderschön und lässt in jeder Zeile den jeweiligen Autor erkennen. Alle Briefe zusammen könnte man – so wie sie sind – abdrucken. Es sind Briefe voller Liebe, voller Wärme, voller Humor, voller Kreativität, voller Ausdrucksstärke und voller Persönlichkeit 💌. Ich bin immer noch sprachlos (was nicht das gleiche ist wie wortlos 😉).
Martina liest ihren Brief als erste vor. Sie schreibt über ihre Hände, die nicht nur ihr selbst Halt geben, sondern auch Verbindungen schaffen. Die mal kraftvoll und mal zart sind. Hinter jedem Satz sehe ich diesen wundervollen Menschen, den ich die letzten Tage ein kleines bisschen näher kennenlernen durfte.
Auch Maria hat einen tollen Brief geschrieben, einen Liebesbrief an sich selbst und an all ihre wunderbaren Eigenschaften und Fähigkeiten. Ich würde diesen Brief sofort unterschreiben. Ich weiß, dass auch Maria manchmal zweifelt, aber dieser Brief zeigt eine unglaubliche Stärke und eine Liebe – nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu anderen Menschen.
Und dann ist da der Brief von Susanne: Sie schreibt über die Neugierde und den Mut. Die Neugierde, die sie antreibt und die sie genauer hinschauen lässt. Die Neugierde auf sich selbst, auf Gott, das Leben und die Menschen. Der Brief ist Susanne wie sie leibt und lebt.
Auch Stefan hat einen Brief geschrieben, in dem ich hundertprozentig den Autor wiedererkenne: Er hat sich seinen Rücken ausgesucht oder hat sich der Rücken ihn ausgesucht? Beide gehen auf jeden Fall gemeinsam durchs Leben und haben zusammen schon viel gestemmt. Dabei ist sein Rücken nicht nur zuverlässig, sondern hat vor allem eines: Rückgrat.
Die sehenden und suchenden Augen
Als ich an der Reihe bin, bin ich fast ein bisschen eingeschüchtert. Mein Herz klopft und ich bin aufgeregt, aber ich weiß, dass auch mein Brief etwas ganz Besonderes ist, weil er eben mich widerspiegelt. Und so fange ich an zu lesen. Schon nach zwei Sätzen werde ich allerdings ganz behutsam von Stefan gestoppt: “Langsamer Katja, atme!”
OK, dann noch mal langsamer 😉:
Liebe Katja!
Ich liebe deine Augen, weil sie sehen können. Das Große im Kleinen und das Außergewöhnliche im Unscheinbaren. Sie bemerken Dinge, die sonst keiner sieht und schauen hinter die Fassade. Sie schauen Menschen an, nehmen wahr und transportieren die Botschaft weiter an dein Herz.
Und dann wiederum sprechen sie auch ihre ganz eigene Sprache: Manchmal werden sie ganz groß vor Staunen oder Freude und strahlen mit der Sonne um die Wette. Mal werden sie ganz klein, zweifeln oder blicken suchend in die Welt. Suchend nach Antworten, suchend nach Zuneigung, suchend nach Halt. Und auch wenn sie traurig sind, sind sie noch wunderschön. Manchmal füllen sich deine Augen dann mit Tränen und schicken diese auf eine Reise. Durch deine Augen kannst du die Tränen, die du in dir trägst, loslassen und heil werden. Was für eine großartige Gabe deiner Augen.
Deine Augen eröffnen dir auch deinen ganz eigenen Blick auf die Welt. Einen Blick voller Neugier, Hoffnung und Glauben. Glauben an die kleinen und großen Wunder, die die Welt ein Stück besser machen. Ich wünsche dir, dass sich deine Augen ihren eigenen Blickwinkel erhalten.
Und ja, auch wenn du deine Augen schließt, sind sie noch wunderschön. Denn auch mit geschlossenen Augen hast du die Gabe zu sehen. Deine Augen richten ihren Blick dann nach innen und gehen dort auf Entdeckungsreise.
Ach, und deine Augen können noch so viel mehr: Sie können funkeln. Sie können Liebe und Zuneigung ausdrücken. Sie können lachen. Man kann ganz tief in sie eintauchen und bekommt eine ganze Welt zu sehen.
Deine Augenfarbe ist einzigartig. Mal wirken sie ganz grün und dann liegt in ihnen so viel Stärke, so viel Kreativität, so viel Energie. In anderen Momenten sind sie ehr grau und blicken vorsichtig in die Welt. Immer aber weiß ich: Ich kann ihnen vertrauen. Und die vielen kleinen Sprenkler sagen mir: Vorsicht, Humor und Unternehmenslust im Anmarsch 😀.
Liebe Katja, deine Augen sind einzigartig und wunderschön!
Als ich fertig bin, sagt Stefan nur: “Die suchenden und die sehenden Augen”.
Ja, so ist das wohl… ☺️
Dieser Moment auf der Wiese hat sich auf jeden Fall eingebrannt in mein Gedächtnis. Definitiv ein Marmeladenglas-Moment, den ich so schnell nicht vergessen werde.
Ich glaube, wir sind alle ein bisschen geflasht, und brauchen einen Moment, um wieder in der Realität anzukommen. Eine Pilgerin aus Frankreich unterhält sich mit uns in einem Kauderwelsch aus französisch, englisch und deutsch. Aber bald schon sind wir wieder unter uns. Während ein paar von uns in den Gottesdienst gehen, genieße ich noch die restlichen Sonnenstrahlen. Immer weiter wandere ich auf der Wiese nach oben: Ich möchte jeden Strahl der Abendsonne mitnehmen.
Der Weg ist breit genug für alle
Irgendwann dann gibt es Abendessen. Vor der Albergue werden ein paar Tische zusammengestellt und einer der Mönche trägt gemeinsam mit einer Helferin einen großen Topf voll Nudeln und Sauce heraus. Das Essen wird uns auf den Teller geklatscht und dann heißt es: Mahlzeit! Aber bitte zügig essen. Wer Glück hat bzw. wer schnell genug gegessen hat, bekommt noch einen Nachschlag. Irgendwie eine merkwürdige Atmosphäre. Zum zweiten Mal heute denke ich mir, dass eine Willkommenskultur und Wertschätzung anders aussehen.
Dazu kommen die Gespräche am Tisch, die mich ermüden und frustrieren: Zwei etwas ältere Pilger erzählen von ihrem Weg und ihren Erlebnissen – so weit so gut. Irgendwann aber steigert sich Mr. X (ich habe seinen Namen vergessen, das sagt schon alles) in sein Reden hinein: Er ist der Meinung, dass zu viele Menschen auf dem Jakobsweg unterwegs sind und dass die, die in der Gruppe pilgern bzw. nur einen Teil des Weges gehen, den “echten” Pilgern die Betten wegnehmen. Da bleibt mir doch die Spucke weg: Es gibt also echte und unechte Pilger? Pilger erster und zweiter Klasse? Ich merke, dass ich überhaupt keine Lust habe zu diskutieren oder zu erklären, warum ich die Form des begleiteten Pilgerns gewählt habe. Ich bin gerne in der Gruppe unterwegs – alleine bin ich schon zuhause. Ich schätze es, mich selbst durch die Gemeinschaft mit anderen besser kennenzulernen. Ich mag die Art der Begleitung, die Stefan anbietet. Die mich weiter auf meinem Weg voran bringt. Für mich ist diese Form des Pilgerns hier und jetzt genau richtig! Irgendwie habe ich Petras Worte aus dem letzten Jahr im Ohr: “Der Weg ist breit genug für alle!” Ja, genau! Und wo bleibt denn die Toleranz? Kann man nicht einfach akzeptieren und respektieren, dass es für jeden einen Weg gibt? Warum muss man immer vergleichen und bewerten? Auch unsere Kilometer“leistung“ wird nur belächelt: „Ach, ihr seid heute nur 8 km gegangen?“ Ja, sind wir und auf diese acht Kilometer bin ich verdammt stolz, weil ihnen ein innerer Weg voraus ging, der in Kilometern gar nicht zu messen ist. Aber ich habe heute Abend keine Kraft mehr zu diskutieren und so sage ich all das nur in meinen Gedanken.
Nach dem Essen sitzen wir fünf – ausgestattet mit Rotwein, Nüssen und Wolldecke – an der Hauswand der Albergue und quasseln noch ein bisschen weiter. Schnell aber merke ich, dass ich für heute genug habe. Der Tag war intensiv – nicht was die Kilometer und die Strecke anging: Der äußere Weg war kurz und leicht. Der innere Weg hingegen war anstrengend und lang und ich merke, dass er auch noch nicht zu Ende ist. Nur für heute, für heute ist Schluss. Und so kuschele ich mich dann flugs in meinen Schlafsack: Wie eine schützende Hülle lege ich ihn um mich. Irgendwie ist er so eine Art „Rückzugsort zum Mitnehmen“ für mich geworden. Da er darüber hinaus noch schön wärmt, schlafe ich ausnahmsweise mal schnell ein.