Camino del Norte
Etappe 5 – Askizu – Zumaia – Deba
Geschenkte Stunden
Nein, ich bin definitiv kein Murmeltier und auf dieser Reise schon mal gar nicht. Mitten in der Nacht beschließe ich, dass es jetzt genug ist. Ich habe keine Lust mehr, mich gemeinsam mit meinen Gedanken von einer Seite auf die andere zu wälzen. Wenn kein Schlaf zu finden ist, dann nutze ich die Zeit eben anders. Vielleicht werden mir diese Stunden ja geschenkt und ich muss das Geschenk nur auspacken und dann auch nutzen.
Also schnappe ich mir meinen Schlafsack, mein Schreibzeug, das Handy und die Kopfhörer und ziehe um in den Aufenthaltsraum. Der ist sogar ganz gemütlich und bietet genügend Platz für mich und meine Gedanken. Das Deckenlicht ist mir viel zu hell, aber zum Glück gibt es eine kleine Schreibtischlampe, die den Raum in ein warmes, leicht dämmriges Licht taucht. Auf dem Handy rufe ich meine Lieblingsmusik auf und lasse die leisen Klänge in mein Inneres dringen. Das geht sogar ganz ohne Kopfhörer, denn hier ist ja mitten in der Nacht keiner.
Und dann beginne ich, den Menschen zu schreiben, die mir wichtig sind. Die letzten Tage habe ich kaum ein Lebenszeichen von mir gegeben, keine Statusmeldungen eingestellt und auch kaum Bilder verschickt. Irgendwie fehlte mir dafür die Energie.
Aber jetzt habe ich ja Zeit. Und so schreibe ich eine Postkarte an meine Mama und Nachrichten an meine Schwester, meine beste Freundin und liebe Weggefährten. Ich merke, dass es mir guttut, von mir und meinem Weg zu berichten und meine Familie und Freunde teilhaben zu lassen. Vielleicht bin ich – mit Blick auf das Enneagramm – eben doch ein Herztyp. Also ein Mensch, der Bindungen sucht und Beziehungen aufrecht hält.
Lieber nur den Kopf in den Sand stecken oder doch gleich ganz verkriechen?
Und schon bin ich beim Thema: Das Enneagramm. Gestern hat mir der Gedanke, mich selbst mit Hilfe des Enneagramms einem Persönlichkeitstyp zuzuordnen, noch Bauchgrummeln verursacht. Aber den Kopf in den Sand stecken mag ich auch nicht. Schließlich möchte ich ja weitergehen und mich weiterentwickeln. Also hole ich die Unterlagen von gestern hervor und los geht’s.
Nur: Es fühlt sich keinen Deut besser an als gestern. Ganz im Gegenteil. Es ist, als ob da eine Sperre in meinem Kopf wäre, die das Denken blockiert. Eigentlich möchte ich jetzt doch den Kopf in den Sand stecken. Oder besser noch: mich ganz in meinen Schlafsack verkriechen. Die Befürchtung, ein ganz bestimmter Persönlichkeitstyp zu sein, der ich nicht sein möchte, weil er in meinen Ohren unsympathisch klingt, blockiert mich. Immer wieder gehe ich die Aussagen des Tests durch und lege am Ende Zettel und Stift frustriert zur Seite.
Bevor ich mir neue Verkrümelungsstrategien ausdenken kann, beginnt auf dem Flur ein großer Radau. Einige der Pilger gehen richtig früh los und ich wundere mich, wie wenig Rücksicht genommen wird. Da knallen die Türen, das große Licht wird ohne Vorwarnung angemacht – vorbei ist es mit der Ruhe und Gemütlichkeit. Der Aufenthaltsraum, in dem es gerade noch so heimelig war, wird zum Basislager fürs Füße eincremen und bandagieren, fürs Rucksack packen und für kleine Mahlzeiten. Irgendwie aber auch spannend, den unterschiedlichen Ritualen zuzuschauen. Dazu werden die obligatorischen Fragen gestellt: “Wie viele Kilometer hast du heute vor dir?” und “Bis wohin gehst du?”. Um ehrlich zu sein: Keine Ahnung. Ich kann weder die eine, noch die andere Frage beantworten. Ich geh halt einfach. Wohin und wie lange ist mir egal. Hauptsache die Richtung stimmt und meine inzwischen schon so lieb gewonnenen Weggefährten sind dabei.
Ein paar verwunderte Blicke und “Buen camino”s später ist wieder Ruhe eingekehrt und ich atme erleichtert auf.
Halt & Unterstützung
Ein Blick aufs Handy zeigt mir, dass ich schon Antworten auf meine Nachrichten bekommen habe. Da scheinen auch andere unruhige Nächte zu haben.
Auch meine Schwester hat geantwortet und bei ihren Worten kommen mir ein paar Tränen. Kurz vor dieser Reise haben wir für unsere an Demenz erkrankte Mutter einen Platz in einem Pflegeheim bekommen und meine Schwester schreibt nun, wie mühsam es ist, wieder alleine laufen zu lernen und sich aus einer Abhängigkeit zu lösen, die den Alltag mehr und mehr geprägt hat. So vieles ist die letzten Jahre auf der Strecke geblieben, insbesondere das eigene Familienleben. Mit den Worten “Ich hab dich lieb” endet ihre Nachricht. “Ich dich auch” schreibe ich zurück und bin froh, dass wir uns gegenseitig Halt und Unterstützung geben können.
Und dann beginnt der Tag so richtig. Frühstück gibt es heute in der Pilger-Herberge. Ein bisschen spärlich für uns Genuss-Pilger, wobei ich mit Kaffee, Toast und Marmelade ganz zufrieden bin 😉. Weniger zufrieden bin ich mit dem Wetter: Kalt sieht es da draußen aus. Und nass. Wollen wir wirklich raus und los? Ja, wollen wir. Aber vorher müssen wir noch unsere nassen Klamotten (die Wäsche draußen aufzuhängen war wohl keine gute Idee) am Rucksack befestigen. Man könnte meinen, wir seien wandelnde Wäscheständer.
Vor der Kirche in Askizu starten wir – zum Warmwerden – mit ein bisschen Sport in den Tag. Und dann geht es los. Die Luft ist feucht vom Nebel und Regen und wieder mal bin ich froh über meine ganzen Jacken. Genauso grau wie das Wetter heute Morgen ist auch meine Stimmung. Ich bin müde, hadere mit dem Enneagramm und mir selbst und bin in Gedanken viel bei meiner Mama und dem Umzug ins Pflegeheim. So gehe ich heute Morgen erstmal ein gutes Stück alleine und merke, dass ich dabei bin, mich zu verschließen und in Abwehrstellung zu gehen. Ob das gut geht?
Auf befestigten Wegen laufen wir durch eine leicht hügelige Landschaft hinab in Richtung Zumaia. Das Grün der Wiesen reicht teilweise bis an den Rand der Klippen – Farbtupfer aber gibt es heute zwischen all dem Grau und Grün nur vereinzelt.
Rein in den Unterschlupf oder raus aus der Höhle?
Die kleine Hafenstadt, die wir nach gut einer Stunde erreichen, liegt am Zusammenfluss zweier Flüsse, die hier in den Golf von Biskaya münden. Und so ist der erste Eindruck auch vom Wasser geprägt: Ein großes Forschungsschiff hat am gegenüberliegenden Pier festgemacht, kleine Boote schaukeln auf den Wellen und ein Ruderverein beginnt mit dem Training: Erst langsam, dann immer schneller gleitet das Boot durchs Wasser.
Im Ort füllen wir unsere Vorräte wieder auf und dann geht es – abseits des offiziellen Jakobsweges – erstmal ein gutes Stück bergauf. Noch in Zumaia selbst machen wir an der Ermita de San Telmo eine Pause. Beim Blick über die Steilküste formen meine Lippen ein stilles “Wow”: Die Aussicht auf das geschichtete Gestein, das diesen Küstenstreifen prägt und “flysch” genannt wird, ist atemberaubend. Aber dazu nachher mehr…
Erst holt Stefan wieder die Landkarte der Befindlichkeiten hervor und heute muss ich eine Weile suchen, bis ich mein Wort finde. Am Ende wird es der “Unterschlupf” – das passt irgendwie ganz gut. Was ich damit verbinde, ist durchaus ambivalent: Auf der einen Seite möchte ich mich am liebsten verkrümeln und die Decke über den Kopf ziehen. Ich hätte es gerne heimelig in meinem Unterschlupf und ein gemütliches Bett sollte da sein. Eine Mütze voll Schlaf wäre schön. Auf der anderen Seite habe ich aber das Gefühl, mich gerade in einer Höhle zu befinden, die mir ein bisschen zu dunkel und zu unheimlich ist und mir nicht guttut. Ich wünsche mir, dass da jemand ist, der mir die Hand reicht und aus dieser düsteren Höhle heraushilft, raus ans Licht.
Rein in den Unterschlupf oder raus aus der Höhle? Noch habe ich keine Ahnung, in welche Richtung mich der Weg heute führen wird.
Schicht für Schicht
Was dann folgt, ist ein wunderschöner Weg entlang der Küste. Unter uns liegt der Strand Playa de Itzurun, der von faszinierenden Felsformationen eingerahmt wird. Wie aufgefaltet liegen sie da, die als “Flysch” bezeichneten Steilklippen und geologischen Schichten, die auch die weitere Küste bis Deba kennzeichnen. Felsen, die durch Sedimentablagerungen unterschiedlich harter Materialien, die Erosion des Wassers und die Erdbewegung im Laufe von 60 Millionen Jahren entstanden sind. Die Auswahl an Farben, Formen und Mustern begeistert mich und immer wieder bleibe ich stehen und lassen den Blick schweifen.
Es folgen noch weitere Aussichtspunkte, bevor der Weg ins Landesinnere abbiegt. Über felsige und holprige Pfade geht es – inzwischen wieder auf dem Camino del Norte – kontinuierlich leicht bergauf.
Durch den kurzen Austausch mit meiner Schwester bin ich in Gedanken heute sehr viel bei meiner Mama und ihrer Demenz, die sie so verändert hat und bei all den Auswirkungen, die diese Erkrankung mit sich gebracht hat und noch mit sich bringt. So ist es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass es erst im Gespräch mit Maria und dann mit Stefan, um die Beziehung zu unseren Eltern geht. Um das Freilaufen, aber auch um übernommene Muster und Verhaltensweisen. Schicht für Schicht grabe ich mich durch meine Gedanken.
Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…
Aber durch diese Schichten ist heute kein einfaches Durchkommen. “Worum geht es dir eigentlich?” fragt mich Stefan und wartet lange auf eine Antwort. Ich bin wie blockiert, fast schon verzweifelt und stotterte und druckse herum. Mir fällt es schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Stefan hat viel Geduld mit mir und führt mich behutsam – durch seine Fragen, aber auch durch sein Schweigen – zu meinen Antworten. Am Ende weiß ich, worum es mir eigentlich geht. Um Vergebung. Ich fühle mich schuldig, meine Mama ins Heim abgeschoben zu haben und weiß doch ganz genau, dass es die einzig richtige Lösung war. Ich fühle mich schuldig, weil ich erleichtert bin, die Verantwortung abgegeben zu haben und auch weil ich erleichtert bin, räumlichen Abstand zu haben. Ihre Tränen tun mir weh und manchmal ist dieser Schmerz kaum auszuhalten. Stefan bietet mir an, gemeinsam mit den anderen für mich und mit mir zu beten. Und wieder hat sich der Stein auf meinem Herzen ein Stückchen gehoben: Einmal ausgesprochen ist die Last gleich viel weniger schwer.
“Wie kannst du für dich den Abschiedsprozess gestalten?” werde ich weiter gefragt. Und wieder weiß ich keine Antwort, mir fehlen die Ideen und Lösungen. Das Thema scheint mich zu hemmen. Wir könnten Fotos anschauen, denke ich mir, merke aber gleich, dass sich das nicht richtig anfühlt. Denn das Bilderanschauen war die letzte Zeit ehr mühsam: zu sehr war und bin ich dabei abhängig von ihren größtenteils nicht mehr vorhandenen Erinnerungen. Das Heft in der Hand habe ich dabei nicht.
Stefan fragt mich, wie sich ein Abschiedsbrief für mich anfühlen würde und ich bleibe wie paralysiert stehen. Natürlich! Wieso bin ich da nicht selbst draufgekommen? Ich verarbeite so viel mit dem Schreiben. Einen Abschiedsbrief zu schreiben, fühlt sich sofort richtig und gut an. Sie muss ihn ja nie bekommen, aber ich kann ihn schreiben. Ich weiß nicht, wann ich diesen Brief schreiben werde und was damit passieren wird, aber ich weiß, dass ich ihn schreiben und dass etwas passieren wird!
Ui, das war anstrengend bis hierhin. Aber so langsam kommt wieder Licht in meinen Unterschlupf und vorsichtig strecke ich den Kopf heraus und schaue nach rechts und links. Ich könnte jetzt rauskommen…
Weitsicht – außen wie innen
Bei leichtem Nieselregen erreichen wir einen gut ausgestatteten Picknickplatz und suchen Schutz unter den ausladenden Bäumen. Auf Grund des Regens fällt unsere Pause etwas kürzer aus – das Essen aber schmeckt uns trotzdem.
Kurze Zeit später, in Elorriaga teilt sich der Weg wieder und wir wählen den Weg, der uns näher an die Küste bringt. Jedes Mal, wenn der Pfad den Blick aufs Meer frei gibt, stockt mir der Atem. Es ist so unglaublich schön! Diesmal kommen wir sogar bis fast ganz hinunter ans Meer und da Ebbe ist, sind die zackigen Felsen, die durch die Kraft des Meeres geschaffen wurde, frei sichtbar. Wie Wellen scheinen sie ins Meer hinaus zu fließen, um sich dann im Wasser zu verlieren. Am liebsten würde ich runter an den Strand und Steine suchen. Stattdessen klettern wir ein bisschen bergauf und finden ein schönes Plätzchen mit Blick über Felsen, Meer und Wiesen. Ein weiter Blick, der gut tut und hoffentlich auch für Weitsicht im Inneren sorgen wird. Denn die brauche ich jetzt – geht es doch um das Enneagramm und damit auch um mich.
Wer bin ich? Wer möchte ich sein?
OK, dann also das Enneagramm. An diesem wunderschönen Platz, der mit seiner Weite auch mein Inneres weit zu machen scheint, lasse mich darauf ein, mir selbst erneut ein Stück näher zu kommen.
Mit Hilfe eines kurzen Tests (Riso-Hudson-Test) versuchen wir herauszubekommen, welcher der neun Persönlichkeitstypen des Enneagramms uns jeweils am besten beschreibt und welches Grundbedürfnis damit unserem Handeln zugrunde liegt. Denn mit dem Wissen um die eigene Motivation lassen sich emotionale Reaktionen und typische Verhaltensweisen besser verstehen und ggf. auch ändern.
Ganz ohne Unterstützung aber geht es nicht: Irgendwie tun wir uns alle schwer und so nehmen wir eine nach der anderen Stefans Hilfe als Coach in Anspruch.
Zuerst versuche ich mich noch selbst an dem Test und der Auswertung – aber beim Ergebnis kann ich nur den Kopf schütteln. Ich soll ein Bauchmensch sein und meine zentralen Themen Zorn und Wut, Kontrolle und Dominanz. Nein, das bin ich nicht – da bin ich mir sicher. Stefan, der inzwischen meine Unterlagen gemeinsam mit mir ansieht, stimmt mir zu: “Nein, das bist du nicht.”
Gemeinsam gehen wir die Aussagen des Tests erneut durch und Stefans Außensicht hilft mir, diese besser zu verstehen und auf mich umzumünzen.
Mit manchen Textpassagen kann ich mich ohne Probleme identifizieren, bei anderen muss ich erst ein bisschen angestupst werden oder auf eigene Muster aufmerksam gemacht werden. Ja doch… Nicht alles möchte man sich eben sofort eingestehen 🙈.
Am Ende ergibt die Auswertung, dass ich ein Typ 2 bin: Der/Die Helfer:in: Einfühlsam, großzügig, besitzergreifend.
Mit Hand und Herz
Das bedeutet, dass meine bevorzugte Energiequelle das Herz ist und mein zentrales Thema das Bedürfnis, gesehen zu werden.
Ja, das passt ganz gut. Und so lese ich – jetzt neugierig geworden – weiter:
Herztypen sind Beziehungsmenschen, denen der Kontakt zu anderen Menschen wichtig ist. Sie investieren viel in die unterschiedlichen Arten von Beziehungen, ziehen aber auch viel Energie aus ihnen. Sie sind aufmerksam anderen gegenüber und haben feine Antennen für deren Gefühle und Stimmungen. Gleichzeitig möchten sie aber auch selbst wahrgenommen werden und leiden, wenn Zuneigung, Zugehörigkeit und Anerkennung ausbleiben. Ihre Reaktionen auf diesen Mangel an Zuwendung können Verzweiflung, Panik, Sehnsucht oder Scham sein. Sie vergleichen sich oft mit anderen und gewinnen ihr Selbstwertgefühl aus den erhaltenen Rückmeldungen.
Beim Lesen denke ich mehr als einmal “Oh ja, das passt” oder manchmal eben auch “verdammt 😉, das passt.”
Noch ein bisschen konkreter wird es, als ich mir durchlese, was Menschen vom Typ 2 charakterisiert: Sie möchten gebraucht werden und unentbehrlich sein. Ihr Selbstwertgefühl schöpfen sie aus der Unterstützung anderer. Bleiben Dank und Anerkennung aus, sind sie enttäuscht, fühlen sich ausgenutzt/abgewiesen und reagieren unter Umständen manipulativ. Sie sind sensibel für die Bedürfnissen anderer, haben aber Schwierigkeiten, die eigenen wahrzunehmen. Sie halten Beziehungen am Laufen, wobei ihnen Harmonie in ihrem sozialen Umfeld wichtig ist. Sie sind gefühlsbetont, warmherzig, verständnisvoll und weich. Positiv, fröhlich und spontan.
“Zweier” wirken häufig ruhig und in sich gekehrt. Werden in Stresssituationen aber zum “Boss” und können dann auch laut und fordernd werden. Stefan meint dazu: “Wenn’s im Kino brennt, bist du die, die den Überblick behält. Dir würde ich vertrauen.” In Entspannung werden Typ 2-Menschen zum/zur “tragischen Romantiker:in”: sie nehmen eigene Gefühle wahr, lernen Grenzen zu setzen und der Zwang zu gefallen fällt weg. Die wahre Natur kommt hervor (künstlerische Betätigung).
Mmmhhh… Ich finde, all das beschreibt mich ziemlich gut. So gut, dass ich es fast ein bisschen unheimlich finde, aber eben auch spannend. Ich beginne, manche meiner Reaktionen besser zu verstehen. Auch die von heute. Nicht jeder Lichtblitz führt dabei zu Jubelstürmen, aber für erhellende Aha-Momente sorgen sie in jedem Fall.
Die große Frage für mich scheint zu sein, wie ich mich unabhängig von der Wertschätzung anderer machen kann. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, mir selbst den Zuspruch zu geben, den ich auch anderen geben würde: Liebe Katja, Du darfst einfach sein – mit all deinen Gefühlen und Emotionen, die kommen und gehen wie die Wellen. Und es ist gut, dass du genauso bist, wie du bist.
Ich muss zugeben, sich dem Enneagramm zu stellen, war nicht so schlimm wie erwartet. Was auch daran liegt, dass ich nicht in der Kategorie gelandet bin, in der ich befürchtet habe zu landen 😃. Ein erleichtertes Lächeln macht sich breit.
Ein Gedanke, der mich stehen bleiben lässt
Nach so viel Denken brauchen wir jetzt aber Bewegung. Also schnell die Rucksäcke gepackt und weiter geht’s:
In einem ständigen Auf und Ab führt uns der Pfad am Rand der Klippen entlang und gibt immer wieder den Blick frei auf den Atlantischen Ozean und die gefalteten Steine.
Kurze Zeit später aber ist das Meer dann auf einmal gar nicht mehr zu sehen – und doch weiß ich, dass es da ist. Urplötzlich kommt mir ein Gedanke, der mich stehen bleiben lässt und dem ich hinterherdenken muss: Das Meer ist immer da, und auch wenn es sich bei Ebbe zurückzieht, so kommt es doch wieder. Es verliert sich nicht dabei.
Was, wenn es sich mit meinen Rückzugsphasen genauso verhält? Auch ich bin noch da, wenn ich mich zurückziehe. Ich kann nicht verloren gehen, weil ich mich selbst nicht verliere. Vielleicht komme ich ja sogar gestärkt aus meinem Unterschlupf hervor? Dieser Gedanke – herangetragen vom Meer – schenkt mir Vertrauen und Zuversicht.
Beim Weitergehen fallen mir kleine blaue Blumen am Wegesrand auf: Vergissmeinnicht. Ein schönes Symbol für den heutigen Tag, der – wie schon Tag 4 – in mein Marmeladenglas der Erinnerungen kommen wird. Denn Erinnerungen sind für mich wie kleine, sprudelnde Quellen, die mich erfrischen und Energie geben für neue Wege und neue Taten.
Am Ende der Etappe geht es noch einmal richtig steil bergauf: durch ein Wäldchen, über eine Fußgängerbrücke und mitten durch eine Wiese mit Kühen, die sich von uns aber kaum beeindrucken lassen und nur ab und an träge den Kopf in unsere Richtung drehen. Wie gut, dass das alte Mantra “ich tue dir nichts, du tust mir nichts” immer noch funktioniert 😄.
Completo: Kein Platz in der Herberge
Endlich oben angekommen, machen wir an der Wallfahrtskapelle Santa Katalinako (Katalina) noch einmal eine Pause und kosten die schöne Aussicht auf die baskische Küste, das grüne Umland und Deba voll und ganz aus. Schon wieder zieht leichter Nebel auf und so verschwitzt wie wir sind, wird es uns schnell ein wenig frisch. Also gehen wir schon bald weiter. Hier oben biegen wir wieder ein auf den Camino del Norte, dem wir bis hinab nach Deba folgen. Der Weg ist steil und ich bin froh, als wir unten ankommen.
Deba wirkt verlassen: die Fensterläden an den Häusern sind geschlossen und kaum ein Mensch ist auf der Straße. Das ändert sich erst, als wir die Pilgerherberge am Bahnhof erreichen. Hier ist Leben – zu viel Leben.
Sehr rigoros werden wir in der Herberge auf die richtige Reihenfolge des Eincheckens hingewiesen: ERST müssen wir in den Ort gehen und uns in der Tourist-Information anmelden. DANN dürfen wir diese heiligen Hallen betreten. Aber “rápido, rápido” bitte. Denn erstens macht die Tourist-Information gleich zu und zweitens sind nur noch wenige Betten frei. Mit vielen weiteren lauten Worten werden wir aus dem Haus herausgeschoben: “¡Vamos! ¡Hala!”. Was für eine Hektik, was für ein Radau. Und dann plötzlich heißt es stopp, “completo”. Die letzten Plätze wurden soeben vergeben. Um ehrlich zu sein, bin ich darüber ganz froh. Diese ganze Armada an Wanderschuhen im Eingangsbereich, der Geruch nach Schweiß, der Geräuschpegel und dazu dieser intensive Tag… nein, ich finde es gar nicht schlimm, dass alle Betten belegt sind.
Wir bekommen eine Liste mit Unterkünften in die Hand gedrückt, die wir der Reihe nach abtelefonieren. Das heißt, Stefan telefoniert, wir sagen Nummern an und lauschen gespannt. Überall bekommen wir die gleiche Antwort zu hören: “Completo”. Sorgen mache ich mir trotzdem keine – immerhin stehen wir hier direkt am Bahnhof und im Notfall setzen wir uns in den Zug nach San Sebastian. Sinnbildlich sind wir zwar weit gekommen, aber weit gegangen eigentlich nicht: Deba und San Sebastian trennen gerade mal 40 Kilometer. Aber dann endlich lautet die Antwort auf die Frage nach den freien Zimmern “sí”: In einem Hotel in Elgoibar sind noch Zimmer frei, die wir flugs buchen. Müssen wir nur noch wissen, wie wir dort hinkommen. Aber auch das ist ja heute – dank Google maps & Co – kein Problem mehr: Reisen ist so einfach geworden. Trotzdem bleibt immer noch ein bisschen Abenteuer übrig, z.B. weil das Buchstabieren von baskischen Straßennamen auf Englisch nicht so einfach ist oder weil Busfahrpläne lediglich Orientierungshilfen darstellen.
Aber es klappt alles ganz wunderbar und der Bus bringt uns bequem an unser Ziel. Das Hotel ist einfach, aber dafür hat es ein gutes Restaurant, in dem wir ein leckeres Abendessen bekommen.
Am Ende dieses langen Tages bleibt für mich die Erkenntnis: