Camino del Norte

Etappe 4 – Orio – Zarautz – Getaria – Askizu

Von Murmeltieren und Elefanten

So langsam komme ich mir vor wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, denn wieder habe ich nicht gut geschlafen und bin früh wach. Irgendwie schaffe ich es nicht, mein Gedankenkarussell zu stoppen und zur Ruhe zu kommen. Mein Schlaf gleicht also überhaupt nicht dem eines Murmeltieres, sondern eher dem eines Elefanten. Eines weiblichen wohlgemerkt. Denn die kommen mit erstaunlich wenig Schlaf aus: Zwei Stunden am Tag reichen ihnen völlig und die brauchen sie noch nicht mal am Stück.

Ok, ich wäre jetzt irgendwie lieber ein Murmeltier. Aber vielleicht brauche ich ja tatsächlich nicht mehr Schlaf.

Da ich vom Rumwälzen auch nicht wieder einschlafe, beschließe ich aufzustehen. Und dann? Wohin mit mir? Das Zimmer, das ich mir mit Maria teile, ist klein und bietet keine Rückzugsmöglichkeiten. Ich möchte sie aber nicht wecken und so gehe ich erstmal ins Bad und setze mich dort auf den Rand der Badewanne. Ich könnte ja auch schon raus an die frische Luft gehen, aber auf die Idee komme ich heute Morgen nicht – bin wohl doch noch nicht so ganz wach. So nutze ich auf jeden Fall die Gelegenheit, um schon mal die Nachricht von Stefan zu lesen, die uns auch heute wieder früh erreicht.

Von Schnecken und Mistkäfern

„Guuuuuuuten Morgen du Pilgerprofi. 😉 Es ist Freitag und damit der vierte Tag auf dem Weg und heute könnte es sein, dass dir ein Mistkäfer über den Weg läuft. Und nun zur Geschichte von heute:

„Es war einmal eine Schnecke, die ganz gemütlich durch die Natur kroch, bis sie bei einem Kirschbaum ankam. Diesen wollte sie hinaufklettern. Während die Schnecke begann, Millimeter für Millimeter an diesem Baum hoch zu kriechen, hörte sie von oben eine Stimme, die rief: „Hey, du lahme Schnecke. Nimmst du dir da nicht ein bisschen viel vor? Wer hoch hinaus möchte, der fällt meist tief. Lass es sein, du bist nur eine Schnecke, das schaffst du nie!“
Die Schnecke erkannte hoch oben im Baum einen Mistkäfer sitzen, der mit aller Kraft versuchte, die Schnecke von ihrem Vorhaben abzubringen. Die Schnecke aber war fest entschlossen, ihr Ziel zu erreichen und antwortete: „Du kannst sagen was du willst, ich schaffe das. Ich erreiche mein Ziel – ganz gleich wie schwer es auch wird!“
„Niemals, gib auf. Du bist zu schwach, das kannst du nie. Warum machst du dir das Leben so schwer, finde dich damit ab, dass du für solche Aktionen einfach nicht geschaffen bist!“ – rief der Mistkäfer.
„Merkst Du eigentlich nicht, dass du nur Blödsinn redest? Wie du siehst, beeindruckt mich dein Geschwätz in keinster Weise. Also lass mich in Ruhe. Du kannst mich nicht davon abhalten, durchzuhalten!“ – so die Schnecke. Der Mistkäfer überlegte, wie er die Schnecke aufhalten könnte. Er grübelte, und versuchte krampfhaft, einen Weg zu finden, die Schnecke zur Aufgabe zu bewegen. Nach einiger Zeit wandte er sich wieder der Schnecke zu und sagte: „Hey, was bringt dir denn all die Anstrengung, hast du nicht geschnallt, dass noch nicht einmal Kirschen am Baum sind?“ Der Mistkäfer war ganz stolz auf seine tolle Argumentation, bis er die Schnecke
hörte: „Du hast Recht, im Moment sind keine Kirschen am Baum, doch bis ich oben angekommen bin, sind wieder welche da!“
Verfasser unbekannt

Jeder von uns begegnet Mistkäfern in seinem Leben, die versuchen, uns von unseren Träumen und von unseren Zielen abzubringen. Lassen wir diese Mistkäfer Mistkäfer sein und hören nicht auf sie.“

„Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch immer geschwinder, als jener, der ohne Ziel umherirrt.“ Gotthold Ephraim Lessing

Ich muss schmunzeln: Mistkäfer kenne ich und manchmal bin ich mir sogar selbst mein eigener Mistkäfer.

So, jetzt aber erstmal fertig machen für den Tag. Inzwischen ist ein bisschen Zeit vergangen und so kann ich guten Gewissens Maria wecken und meinen Rucksack packen.

Nachdem all unsere Sachen entweder im oder am Rucksack verstaut sind (die gewaschenen Klamotten sind wie erwartet über Nacht nicht getrocknet und werden mit Sicherheitsnadeln und Knoten außen am Rucksack fest gemacht), treffen wir uns vor dem Haus, um gemeinsam in den Tag zu starten.

Stefan liest uns die Geschichte von der Schnecke und dem Mistkäfer vor und anschließend bekommen wir noch ein weiteres Zitat mit auf den Weg:

„Lass dir von niemandem, auch nicht von dir selbst, dein Selbstvertrauen rauben.“ Orison Swett Marden

Ja, wenn das mal so einfach wäre. Aber ich arbeite daran.

Inzwischen knurrt mein Magen ganz beträchtlich und gegen einen Kaffee hätte ich auch nichts einzuwenden. Es mag ja sein, dass Elefanten nur zwei Stunden am Tag schlafen – dafür essen sie aber auch 14-19 Stunden lang 😄. Ganz so viele Stunden brauche ich nicht, aber gegen ein Frühstück hätte ich absolut nichts einzuwenden. Also stiefeln wir los und die nächste Bar ist unsere.
Was dann kommt, ist bekannt: „Tres café con leche, …“ Den Rest spare ich mir mal 😉.
Diesmal gab es für mich noch ein zum Finger abschlecken leckeres Schoko-Croissant dazu. Mmmhhh…

Nach dieser Stärkung wird auch noch der nächste Supermarkt von uns geplündert – unsere Picknick-Pausen sollten im Laufe der Zeit kulinarisch immer ausgefeilter werden.

Spiegelbilder und das weiße Gold der Küste

Und dann gehen wir endlich los, durch das kleine Städtchen Orio und über den Fluss Oria, der hier ins Meer mündet. Die Lichtstimmung ist fantastisch: der Frühnebel löst sich so langsam auf und Sonne, Berge, Häuser und Boote spiegeln sich auf dem glatten Wasser. Immer wieder muss ich stehen bleiben oder die Straße überqueren, um ein Foto zu machen oder einfach nur zu schauen. Spiegelbilder haben mich schon immer fasziniert. Was ist oben und was ist unten? Ist das Spiegelbild genauso echt wie das Original? Sind die Dinge ganz weit weg und unerreichbar oder doch zum Greifen nah? Manchmal scheint alles ganz klar zu sein und dann ist es doch ganz anders. Da genügt ein kleines Steinchen und das Bild, an dem wir festhalten, fängt an zu verschwimmen. In anderen Momenten scheint alles ganz undurchsichtig zu sein und dann plötzlich ein Augenblick der Klarheit: wir können wieder Grund sehen.

Ich muss aufpassen, dass mir die anderen nicht davonlaufen. Aber heute Morgen habe ich tatsächlich das Gefühl, dass meine Augen mit dem Gucken nicht hinterherkommen. Auch auf der anderen Seite des Flusses gibt es viel zu sehen: Felsen zum Beispiel, die aussehen wie längs geschichtet. Auch hier muss ich die Straßenseite überqueren, um das Streifen-Gestein anzufassen. Ich muss fühlen, was meine Augen kaum begreifen können. Ich stehe hier vor so vielen Jahren Erdgeschichte und das lässt mich staunen.

Wir biegen links ab und während wir den Hügel Talaimendi hochsteigen, kommen zum ersten Mal Weinberge in Sicht. Der Weißwein, der hier heranwächst, wird auch das weiße Gold der Küste genannt. Aber das erfahre ich erst später.

Die Kühe blicken uns neugierig an, während wir nach und nach unsere Jacken ablegen. Es wird warm. Ein kleiner liebevoll gestalteter Rastplatz (mit Erste-Hilfe-Kästchen für Pilger) lädt zu einer kurzen Verschnaufpause ein und dann geht es auch schon weiter. Vorbei am Campingplatz Zarautz (da stelle dann sogar ich mal kurz meine mobilen Daten an, um den Stellplatztipp an meine Familie weiterzugeben) und vorbei an einer Wegsperrung… Oder was soll das rot-weiße Flatterband bedeuten? Die baskischen Worte sind für mich unverständlich, das Zeichen mit dem durchgestrichenen Fußgänger hingegen nicht. Aber entweder bin ich die einzige, der es auffällt oder den anderen ist es egal. Stefan auf jeden Fall zeigt keine Zeichen von Beunruhigung – das hätte ich mir ja denken können 😄. Also denke auch ich mir: Was soll’s – ich geh einfach!

„Rodelspaß“ auf der Landkarte der Befindlichkeiten

Die Blicke auf das tiefblaue Meer, den Golf von Biskaya, und Zarautz sind herrlich. Und dann kommt auch schon ein wunderschöner Picknickplatz in Sicht: Ein paar Stufen führen hinab zu einem Aussichtspunkt mit zwei Felsblöcken, die wir uns für unsere Pause zu Nutze machen.

Als erstes holt Stefan die „Landkarte der Befindlichkeiten“ hervor, die die Tage schon einmal zum Einsatz kam. Auf dieser Karte ist eine einfach gemalte Landschaft mit Bergen, Wäldern und Wasser abgebildet sowie Worte, die sinnbildlich für Gefühlslagen stehen. „Wo stehst du heute?“ lautet die Frage dazu. Während ich vor ein, zwei Tagen noch im Dickicht unterwegs war, habe ich heute das Gefühl, der „Rodelspaß“ beschreibt meine Gefühlslage ganz gut. Ich sause hinab und hinein ins Abenteuer und freue mich wie ein Kind an den kleinen Überraschungen links und rechts des Weges – ob Spiegelbilder, Blumen oder Steine. In diesen Momenten bin ich definitiv ein Grinsekind 😃.

Was folgt, ist eine intensive Atemübung, die mich diesen Moment ganz bewusst erleben lässt:

Mit jedem Atemzug spüre ich, wie sich der kühle Strom an frischer Meeresluft, angereichert mit Lebensenergie und Licht, in meinem Körper ausbreitet. Ich atme mich tiefer und intensiver an diesen Platz, höre die Stimmen der Vögel, das Rauschen des Meeres und des Windes und die Atemzüge der anderen.
Ich versuche mir das Bild von diesem Moment abzuspeichern als liebevolles Bild für das, was ich mir mit diesem Weg, dieser Zeit und dieser Reise gönne. Und das Bild der Geschichte von heute Morgen als Bild für meine Ziele, die ich in meiner Geschwindigkeit, mit meinen Talenten, mit meinem Humor und mit meinem Lächeln angehen und erreichen werde. Ja, und ich wünsche mir, dass ich all den Mistkäfern in meinem Leben mit einer tiefen Gewissheit gegenübertreten kann, dass alles richtig ist, wie es ist und dass ich mir dabei meiner ganz sicher sein kann.

Während es sich für mich hier an diesem Ort und in diesem Moment ganz leicht anfühlt, erlebt eine andere von uns einen sehr schweren Moment. Wir versuchen sie zu stärken und im Tagesrückblick werde ich lesen: „Jeder hat sein Päckchen zu tragen und manchmal fühlt es sich schwerer an wie unser Rucksack. Ausgesprochen, geteilt und abgegeben, entlädt sich diese Last und wir können loslassen und entspannen.“ Wie wahr!

Im Anschluss an diese meditative Einheit breiten wir unser herrschaftliches Picknick aus. Man, oh man – ist das alles lecker. Ob’s an der frischen Luft, der Bewegung, der Gesellschaft oder den Produkten liegt? Egal… Es schmeckt einfach wundervoll!

ABENTEUER.LUSTIG.

Gut gestärkt machen wir uns auf den weiteren Weg in Richtung Zarautz. Die gelben Blumen bilden einen wunderschönen Kontrast zum blauen Meer und dem Grün der Hänge. Auch hier könnte ich gut und gerne alle Naselang stehen bleiben und einfach nur schauen.

Kurze Zeit später aber kommt, was kommen muss: Der Weg ist mit Hinweis auf eine Baustelle gesperrt. Diesmal bestehen keine Zweifel, die Sperrung ist eindeutig. Stefan aber ist überzeugt, dass wir schon irgendwie weiterkommen werden und so ignorieren wir die Absperrung und folgen den Treppenstufen hinunter in Richtung Meer. Ganz kurz zwischendurch kommt mir der Gedanke „Hoffentlich muss ich die nachher nicht alle wieder hochgehen“, doch dann schiebe ich diesen Gedanken ganz schnell, ganz weit weg und gehe einfach weiter.

Unten angekommen sollte eigentlich eine Brücke über den San Pelaio führen, der hier ins Meer mündet. Diese Brücke aber ist nicht vorhanden bzw. scheint gerade neu gebaut zu werden. Kein Rüberkommen also. Was nun? Eine Alternative finden, ganz klar. Denn die Stufen wieder rauf: no way! Also gehen wir durch die Baustelle ein kleines Stück flussaufwärts, um dort hinunter an den Fluss zu gelangen und durchzuwaten. So der Plan. Die Bauarbeiter scheinen sich an unserer Aktion nicht zu stören – also ist dies wohl ein guter Plan, so zumindest meine Interpretation. Wir klettern durch die Böschung das kurze Stück hinab zum Wasser und unten angekommen heißt es: Schuhe aus und ab ins erfrischende Nass! Während die Wanderschuhe in der Hand munter vor sich hin baumeln, suchen sich meine Füße den besten Weg durch die Steine und über den Sandboden. Mein Strahlen wird mit jedem Schritt größer: Da ist es wieder, das Grinsekind, das die Abenteuer so liebt ☺️. Das Wasser ist herrlich erfrischend und ich kann es nicht lassen, tauche die Zehen tief in den Sand, wirble mit den Füßen das Wasser auf und genieße es, wie die Tropfen an mir hochspritzen. Schon längst könnte ich wieder an Land gehen. Aber ich bleibe noch und weiß – wie schon am ersten Tag – wieder ganz genau, was ich möchte: Komplett rein ins Wasser.

Ein Moment fürs Marmeladenglas

Da ich mir vorgenommen habe, viel mehr auf meine Wünsche zu achten und diese auch zu äußern, mache ich jetzt genau das und frage Stefan, ob wir Zeit für ein Bad im Meer haben. Die Reaktion ist mit Blick auf die Uhr verhalten und sofort merke ich, wie sich in mir drin ein riesengroßer Klumpen Enttäuschung breit macht: So gerne würde ich da jetzt rein. Aber wieder mal ist da diese leise Stimme aus meiner Vergangenheit, die flüstert: „Es geht nicht immer nach deinem Kopf“. Vielleicht ist ja genau diese Stimme der Grund dafür, dass ich mit meinen eigenen Wünschen oft so zurückhaltend bin. Die Angst vor Enttäuschungen ist zu groß. Nicht rational, ich weiß….

Und hier und heute? Muss ich schlucken, akzeptiere aber die Situation, wie sie ist. Scheinbar möchte außer mir niemand ins Wasser und ja, wir haben noch einige Kilometer vor uns. Der Kopf versteht das, aber der Bauch möchte Abenteuer und das Herz ist enttäuscht. Das Strahlen, das gerade noch da war, ist weg und ich kämpfe mit mir und gegen die Tränen. Aber nein, so schnell möchte ich den Mistkäfern nicht das Feld überlassen und deshalb beschließe ich, wenigstens so lange es geht barfuß durchs Wasser zu gehen und das Spiel der Wellen an meinen Füßen zu genießen.

Und dann plötzlich machen wir sie doch, die Pause, und mich hält nichts mehr: Rucksack aus, rein in die Badeklamotten und ab ins Meer. Es ist erfrischend, aber bei Weitem nicht so kalt wie am ersten Tag. Martina hat sich mit mir ein Herz gefasst und während die anderen ein bisschen dösen, planschen und strahlen wir wie die kleinen Kinder.

Auch als ich die Klamotten schon lange wieder anhabe, bleibe ich noch unten am Wasser und schaue dem Spiel der Wellen zu. Das Wasser ist so unglaublich klar. Ich sauge alles in mich auf: Geräusche, Gerüche, Gefühle und Bilder und mache diesen Moment zu einem Moment, der in mein imaginäres Marmeladenglas der Erinnerungen kommt und dort gut konserviert wird – um ihn später bei Bedarf wieder hervorholen zu können.

Auf der Rolltreppe nach oben

Nach dieser Herzens-Pause gehen wir – jeder in seinem Tempo – am Strand entlang weiter. Wir Mädels landen schon kurze Zeit später in einem Café an der Promenade von Zarautz. Mit Blick auf das Wasser schmeckt der Kaffee hier doppelt gut. Und natürlich können wir an dem Kuchen auch nicht einfach so vorbei gehen. Genuss-Pilgern, sag ich ja 😄.

Wir folgen von Zarautz dem alternativen Camino del Norte, der direkt an der Küste verläuft, bis in das fünf
Kilometer entfernte Getaria. Der asphaltierte Fußweg läuft zwar direkt neben einer Schnellstraße und ist auch recht gut frequentiert, aber die Blicke auf die gezackte Küstenlinie und das kristallklare grüne Wasser mit den durchschimmernden Felsen machen das mehr als wett.

In Getaria treffen wir Stefan wieder und gönnen uns erstmal – na klar, eine Pause 😂.

Und weil so viele Pausen anstrengend sind, ist es gut, dass uns vom tiefer gelegenen Ortszentrum Rolltreppen im Freien und ein Fahrstuhl nach oben, zurück auf den eigentlichen Camino del Norte, bringen. Ratzfatz ist so der Höhenunterschied überwunden und wir können unseren Weg in Richtung Askizu, unserem heutigen Etappenziel, fortsetzen.

Kurz vor dem Ziel halten wir noch einmal inne, um unsere Entdeckungsreise zu uns selbst fortzusetzen, zu reflektieren und ins Gespräch zu kommen. Als Instrument nutzen wir diesmal das Enneagramm, das neun Persönlichkeitsmuster beschreibt, die in Kopf-, Bauch- und Herz-Typen unterteilt werde. Auch wenn wir von allen Typen Anteile in uns tragen, so prägt uns doch ein Typ ganz besonders und ein Zentrum hat die Leitung in unserem Leben übernommen:

Das Energiezentrum Herz ist bindungsorientiert und braucht Beziehung und Kontakt zu anderen.
Das Energiezentrum Kopf braucht Struktur, Klarheit, Sicherheit und Orientierung.
Das Energiezentrum Bauch braucht Handlung und Autonomie, Abenteuer.

Wer bin ich?

Um uns mit der Enneagrammarbeit vertraut zu machen, bekommen wir folgende Aufgabe:

„Zum Einstieg in die Enneagrammarbeit tausche Dich über die Person Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) aus. Wer war dieser Mann? Was weißt Du über sein Leben und welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Ressourcen kennzeichnen ihn? Nutze die Informationen des folgenden Textes für den „Riso Hudson Test“. Bei den weiteren Schritten begleite ich Dich.“

Der Text, den wir bekommen, wurde von Bonhoeffer 1944 im Militärgefängnis Berlin-Tegel geschrieben. „Wer bin ich?“ lautet der Titel und beim Lesen kann man ganz deutlich die Zerrissenheit Bonhoeffers spüren. Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist er auf der Suche nach sich selbst.

Wir merken schnell, wie schwer es uns fällt, nur auf der Grundlage dieses Textes und des bruchstückhaften Wissens über Bonhoeffer eine Zuordnung zu einem der neun Persönlichkeitstypen vorzunehmen. Aber vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, wo und wie wir ihn einstufen. Eigentlich geht es doch nur darum, ins Gespräch zu kommen und uns mit der Enneagrammarbeit vertraut zu machen. Morgen wird es dann um uns gehen – so die Ankündigung. Um ehrlich zu sein bereitet mir das ein wenig Bauchgrummeln, denn ich habe Sorge, in einer Kategorie zu landen, in der ich nicht sein möchte. Aber das kommt ja erst morgen.

Einzigartig, wertvoll, wunderbar und wunderschön

Heute setzen wir erstmal unseren Weg fort und kommen schon kurze Zeit später in Askizu an.
In unserer Unterkunft werden wir freundlich willkommen geheißen – aber bevor wir uns dem Duschen und der Wäsche (es gibt eine Waschmaschine 🙂!) widmen, kommen wir vor der Kirche San Martín de Askizu noch einmal für den Abschluss des Tages zusammen. Bei der Meditation passiert mir etwas, das ich immer noch nicht so ganz begreifen kann. Ich weiß nicht… Vielleicht ist das Zusammenspiel von Stefans Worten über die Nähe Gottes und dem Wind, der sanft über meine Wangen streicht sowie dem Licht, das die Wolken durchbricht und das ich durch die geschlossenen Augen hindurch spüre. Vielleicht sind es auch all die Erlebnisse und Emotionen der letzten Tage und Stunden. Mir kommen auf jeden Fall die Tränen – aber es sind keine Tränen der Trauer. Es sind Tränen, die ganz tief aus mir rauskommen und die ich kein bisschen stoppen kann. Da ist so vieles, was dieser Weg zutage bringt. So vieles, das mich wieder näher zu mir selbst bringt und das mich stärkt. Ich fühle mich – nach all den Zweifeln im Vorfeld, ob dieser Weg der richtige für mich ist und auch nach all den Selbstzweifeln – angekommen und angenommen. Ja, vielleicht spüre ich ja gerade sogar wirklich die Nähe Gottes.

Susanne scheint meine Tränen zu bemerken, ist plötzlich ganz nah bei mir und fragt, ob sie mir die Hände auf den Rücken legen darf. Ihre Hände sind warm und geben mir den Halt, den ich brauche.
Ich fühle mich gestützt und gehalten und ihre Worte dazu lassen meine Tränen noch stärker laufen: „Du bist Gottes geliebtes Kind. Du bist seine Tochter. Einzigartig, wertvoll, wunderbar und wunderschön.“

Ich brauche einen Moment, bis ich den anderen erklären kann, was da mit mir los war. Aber es tut gut, genau diese Menschen genau jetzt an meiner Seite zu haben.

Aber der Weg ist doch ausgeschildert…

Nach der Dusche und nachdem wir unsere Wäsche in die Waschmaschine verfrachtet haben, bin ich froh, einen Moment für mich zu haben und streife noch einmal – ausgestattet mit meinem Notizbuch, Kopfhörern und einem kühlen Getränk – durch den Ort, um meine Erlebnisse des Tages festzuhalten. Allerdings hat der Wind so aufgefrischt, dass es kaum möglich ist, irgendwo sitzen zu bleiben, ohne zu frieren. So wird es nur eine kurze Auszeit. An einem Zaun, der mit einer grünen Plane verkleidet ist, fallen mit lauter Schnecken auf, die in unterschiedlicher Höhe auf der Plane sitzen. „Jede in ihrem Tempo“, denke ich mit Blick auf die Geschichte von heute Morgen und muss schmunzeln.

Beim Abendessen treffen wir auf eine junge Kanadierin, zwei Italiener und einen Niederländer. Mal wieder fällt es mir schwer, meinen Platz in der Gruppe zu finden. Immer sind da andere, die schneller, spontaner, witziger oder lauter sind. Ich habe das Gefühl, überhaupt keine Chance zu bekommen, zu Wort zu kommen. Und wenn, dann werde ich nicht gehört. Ein bisschen frustriert es mich und förderlich fürs Selbstbewusstsein ist es auch nicht. Dabei habe ich mich gerade noch so gut und stark gefühlt. Aber ich merke auch, dass ich schon gelassener bin und besser damit umgehen kann, als noch vor ein paar Tagen.

Auch in dieser Pilgerherberge kommt wieder die verwunderte Frage, wozu wir denn einen Pilgerbegleiter brauchen. Der Weg sei doch ausgeschildert… Ich glaube, die meisten haben dabei das Bild eines Reiseleiters vor Augen, der mit hoch erhobenem Regenschirm vorweg geht und den Weg weist. Vielleicht noch etwas über die Sehenswürdigkeiten links und rechts des Weges erzählt und die Unterkünfte organisiert. Mehr aber auch nicht. Aber das, was wir hier machen, ist so viel mehr. Pilger-Coaching ist wohl das bessere Wort dafür. Denn es geht ganz stark um Persönlichkeitsentwicklung und für mich um das Weitergehen auf dem von mir eingeschlagenen Weg. Und dafür brauche ich Orientierung und Unterstützung.

Irgendwie mühsam, all das und noch mehr in Kürze zu erklären. Heute machen wir uns einen Scherz daraus und erzählen witzige Geschichten – so wird dies dann doch noch ein lustiger Abend.

PS: Eine unliebsame Überraschung erwartete uns nach dem Abendessen: Die Waschmaschine, über die wir uns so gefreut hatten, hat uns ihren Dienst versagt. Was bedeutete, noch schnell eine Handwäsche einzulegen und auf den Wind und seine Trockenkünste zu vertrauen. Denn Morgen geht’s weiter…