Camino del Norte

Etappe 6 – Deba – Markina-Xemein

Alles wie immer. Nur anders.

Ein Morgen, der irgendwie ist wie immer. Und irgendwie auch wieder nicht. Ein Morgen, der mit den üblichen Ritualen – Aufstehen, Waschen, Wetter-Check, Anziehen, Rucksack packen – beginnt, und der uns mit dem nötigen Treibstoff versorgt: Kaffee 😊. Wahlweise ohne, mit und mit ein bisschen Milch 😉. Dazu ein frisch gepresster Orangensaft und etwas zu essen, für die einen süß, für die anderen deftig. Ein Morgen, an dem wir kurz darüber sprechen, ob ein Ruhetag eine Alternative für einen Teil von uns ist und schnell zu der Entscheidung kommen: Zusammen ist man weniger allein. Ein Morgen, an dem ich mich darüber freue, dass aus „Ich & Du“ „Wir“ geworden ist. Ein Morgen, an dem uns ein Bus zurück zum Endpunkt der gestrigen und Startpunkt der heutigen Etappe bringt und an dem wir uns die Wartezeit auf eben diesen Bus mit ein paar Dehnübungen an der Bordsteinkante verkürzen.

Eigentlich alles wie immer. Nur eben anders.

Das kleine Schreckgespenst

In Deba angekommen, suchen wir als erstes einen Supermarkt auf, um den leeren Raum in unseren Rucksäcken wieder aufzufüllen. Ich weiß auch nicht, aber die Vorstellung „Nichts zu essen zu haben“ scheint wie eine Art Schreckgespenst über uns zu schweben. Nicht, dass die bisherigen Etappen diesem Gespenst Futter gegeben hätten, aber es begleitet uns hartnäckig. Ich stelle mir gerade ein kleines, weißes Gespenst vor, das Grimassen schneidend über uns hinweg schwebt, dann aber plötzlich innehält und ob unserer Einkäufe entrüstet mit dem Fuß aufstampft – wenn Gespenster denn Füße haben 🤔. Auf jeden Fall werden seine Augen mit jedem Teil, das wir kaufen, immer größer und seine Sorgen auch. Denn eigentlich wäre es doch seine Aufgabe, all unsere Vorräte verschwinden zu lassen. Aber wie soll ihm das nun gelingen? Bevor das kleine Schreckgespenst aber völlig verzweifelt, kommt ihm zum Glück die rettende Idee: Es könnte ja Wanderstöcke verstellen, Schnürsenkel verknoten oder Socken verstecken. Dann wäre es zwar kein Schreckgespenst mehr, sondern ein Ulkgespenst – aber wenigstens nicht arbeitslos. In Gedanken überlege ich mir schon Namen für das kleine Schreck-/Ulkgespenst: Hui Cadeno (für „Camino del Norte“) zum Beispiel oder Nuquako (für „Nur Quatsch im Kopf“).

OK, vielleicht sollten wir jetzt besser loslaufen – bevor die Fantasie völlig mit mir durchgeht. Sämtliche trübe Gedanken, die mich heute Morgen eventuell noch plagen, sind dank des kleinen Schreckgespenstes allerdings wie weggeblasen und selbst die allmorgendliche Müdigkeit hat ein wenig nachgelassen.

Der Seelenvogel

Am Hafen von Deba beginnt unsere heutige Etappe. Rot, türkis, schwarz, blau, weiß… die kleinen Boote, die hier leise hin- und herschaukeln, bilden einen schönen Kontrast zum dunkelgrünen Wasser. Ganz ruhig ist das Wasser der Deba und die Masten der Boote spiegeln sich darin wie kleine Kreuze.

Mit dem Überqueren des Flusses verlassen wir endgültig den Küstenbereich und folgen von nun an dem Camino del Norte ins Landesinnere.

An einer alten Eiche machen wir unsere erste Rast: Ihr Stamm ist breit und stark genug, um uns allen Rückhalt zu geben und ihr Blätterdach ist dicht genug, um uns Schutz vor dem einsetzenden, leichten Regen zu bieten. Von den Wurzeln bis zur Krone bietet uns dieser Baum Stärke und Schutz.

Nur drei Worte stehen auf dem Zettel, den wir heute von Stefan bekommen: „Wer bin ich?“. Drei Worte, die reichen, um mein Gedankenkarussell in Gang zu setzen. Sofort sind die Entwicklungen der letzten Tage wieder ganz präsent und ich weiß, dass meine Antwort am Anfang dieser Reise noch eine ganz andere gewesen wäre… Trotzdem bin ich froh, meine Antwort nicht in Worte packen zu müssen, sondern die Augen schließen zu können und einer Geschichte lauschen zu dürfen, die uns Stefan vorliest.

In der Erzählung „Der Seelenvogel“ geht es um die Seele der Menschen, in deren Mitte ein kleiner Vogel wohnt: Der Seelenvogel. Er fühlt alles, was wir fühlen, und so tobt er zum Beispiel in uns herum, wenn uns jemand verletzt hat und macht lustige Sprünge, wenn uns jemand liebt. Für jedes Gefühl hat der Seelenvogel eine Schublade, die er aufziehen oder zulassen kann und so bestimmt er unsere Launen.
So verschieden wie die Seelenvögel sind, so verschieden sind auch die Menschen: Manche Seelenvögel machen jeden Morgen die Schublade „Freude“ auf, andere Vögel vergessen die Schublade „Wut“ wieder zu schließen…

Irgendwie eine schöne Umschreibung für etwas, das so wenig greifbar ist und sich oft nur so schwer erklären lässt. Plötzlich habe ich ein Bild vor Augen: Mein Seelenvogel ist ein kleiner, kugeliger Vogel in Blau und Orange. Ein bisschen zerzaust ist er und kann kaum stillstehen. Sein Blick ist neugierig, ein bisschen schelmisch und auch ein bisschen vorsichtig. Während dieser Reise hat er schon so einige Schubladen geöffnet und manche – zum Glück – auch wieder geschlossen. Mal möchte ich ihn den Arm nehmen und trösten, mal darf er mich gerne trösten. Vielleicht hilft mir das Bild des kleinen Vogels ja auch, nachsichtiger mit mir und meinen Gefühlen zu sein. Zu akzeptieren, dass sie da sind und sie kommen und auch wieder gehen zu lassen.

Leben ist wie Schaukeln

Nach einem Blick auf die „Landkarte der Gefühle“ (ich befinde mich irgendwo in einem „Unbekannten Land“) geht es weiter und mit jedem Schritt verändert der Camino sein Gesicht: Es wird bergiger, grüner und aussichtsreicher. Die Pfade sind mal schmal und steinig, mal breit und asphaltiert. Der Wolkenhimmel ist grandios und während die Sonne die grünen Hügel förmlich zum Leuchten bringt, werfen die Wolken dunkle Schatten auf sie und es entsteht eine unglaubliche Vielfalt an Grüntönen. Ein ganzes Stück haben wir uns nun schon vom Meer entfernt und nur ab und an ist das tiefe Blau noch in der Ferne zu sehen. Die Landschaft aber ist hier nicht weniger beeindruckend als an der Küste. Nur anders 😉.

Nach knapp neun Kilometern machen wir an einer Bar in Olatz eine Pause. Das Restaurant, eine Kirche und ein, zwei Häuser… aus mehr scheint dieser Ort nicht zu bestehen. Halt, da gibt es doch noch etwas: zwei Schaukeln, die Maria und ich ausgiebig nutzen 😊.

Kaum Platz genommen, heißt es auch schon: Schwung holen, abheben, Leichtigkeit fühlen. Hin und her geht es, mal nach oben, mal nach unten. Es ist wie im Leben: Nicht immer nur geht es bergauf. Mal erleben wir Höhenflüge, mal geht es bergab – aber tatsächlich können auch Abfahrten Spaß machen 😉. Mal verleihen wir uns gegenseitig Schwung, mal schaffen wir es aus eigenem Antrieb. Ja, Leben ist wie Schaukeln und weckt in jedem Fall das Grinsekind in mir.

So viel zu sehen

Auf dem Weg geht es die folgenden Kilometer kontinuierlich bergauf. Kleine Motocross-Maschinen kommen uns von oben entgegen und sind – kaum sind sie da – auch schon wieder weg. Sie legen ein anderes Tempo vor.
Während wir gehen, reden wir über dies und das. Über Beziehungen und über das Unterwegssein und dabei hat mein Seelenvogel viel zu tun. Mal zieht er die Schublade der Frustration auf („Vielleicht bin ich einfach nicht für Beziehungen gemacht“), mal plustert er stolz sein Federkleid auf und leuchtet in allen Farben („Alleine mit dem Wohnmobil unterwegs? Kein Problem…“). Ich versuche gnädig mit mir und dem kleinen Vogel zu sein und flüstere ihm zwischendurch auch mal zu: „Nun lass schon gut sein, mach die Schublade bitte wieder zu.“

Obwohl die Gespräche intensiv sind, nehmen meine Augen all die schönen Dinge um mich herum wahr. Ganz plötzlich kommt mir ein Zitat von Hans Christian Andersen in den Sinn, der so viele wundervolle und kluge Dinge gesagt hat:

„When I travel, I’m occupied from morning to night, I must look and look again.“

Genau so geht es mir gerade auch. Immer wieder muss ich stehen bleiben, weil irgendetwas meine Aufmerksamkeit fesselt: mal sind es die blauen Akeleien am Wegesrand, mal die Tautropfen, die wie funkelnde Perlen in der Sonne glitzern.

Ich will… Leben

Das Panorama wird immer grandioser und die Sonne scheint immer intensiver. Ein wenig abseits des Weges finden wir ein schönes Plätzchen, an dem wir es uns im Schatten der Bäume bequem machen. Diesmal hat Stefan einige Kärtchen vorbereitet, auf denen Worte aus Psalmen stehen:

Liebe | Weisheit | Gerechtigkeit | Intelligenz | Dankbarkeit | Ganzheit | Wahrheit | Frieden | Glücklich | Freude | Schönheit | Liebe | Reichtum | Vertrauen | Einklang | Harmonie | Heilung | Führung | Güte | Leben

Zunächst sprechen wir diese Worte laut aus, mit dem Zusatz „… ist jetzt da“ und dann mit den Worten vorweg „Ich bin…“. Manche Worte verwende ich automatisch und gerne – wie z. B. „Ich bin reich“, denn das verbinde ich nicht mit materiellem Reichtum, sondern mit dem Segen, hier zu sein und diese Momente erleben zu können und zu dürfen. Ich bin reich an Momenten – wow 😊! Bei anderen Worten habe ich mehr Schwierigkeiten, z.B. „Ich bin schön“. Mmmhh… naja… Auch insgesamt habe ich Schwierigkeiten, die Worte laut auszusprechen und mit Klang und Lautstärke zu experimentieren. Immer ist da die Angst, mich lächerlich zu machen. So auch bei der letzten Aufgabe: „Ich will…“. Aber irgendwie sind wir alle sehr verhalten und so fragt uns Stefan schließlich, was denn los ist und ob wir mit der Aufgabe nichts anfangen können. Doch, kann ich schon. Aber da ist so Vieles. Ich fasse mir ein Herz und sage, dass ich die Worte „Ich will… LEBEN“ am liebsten laut herausbrüllen würde, mich aber nicht traue. Irgendetwas hält mich zurück, tritt auf die Bremse. Selbst als es heißt „Auf 1,2,3…alle“, habe ich Angst. Angst, dass die anderen nichts sagen und ich die Worte als einzige herausrufe und mich blamiere. Dass ich auffalle oder über mich gelacht wird. Ich habe Angst, dass meine Stimme nicht trägt – die es nicht gewohnt ist, laut zu werden. Aber ich darf den anderen doch vertrauen und so wird es am Ende erst ein zaghaftes, dann ein etwas lauteres – aber in jedem Fall fünfstimmiges 😊 – „Ich will… LEBEN“!

Ein reiches Herz

Die folgenden Kilometer kommen wir gut voran und mal wieder nehme ich es für mich in Anspruch, mit Stefan Dinge zu besprechen, die mir auf dem Herzen liegen. Ich bin ein wenig frustriert, dass ich immer wieder um die gleichen Themen kreise und scheinbar keinen Ausweg finde. „Was ist verkehrt mit mir?“ ist ein Gedanke, der mir immer wieder kommt, den ich aber nicht auszusprechen wage. Was nun kommt, ist ein ganzes Potpourri an Gefühlen, ausgelöst durch Worte. Manche dieser Worte stimmen mich nachdenklich, manche bringen mich zum Lachen – auch über mich selbst. Manche sind wie kleine Piekser mit der Nadel – mal ganz schwach, mal etwas stärker. Und manche machen mich auch wütend oder traurig. „Lieber Seelenvogel, ein paar Gefühle weniger tun’s dann jetzt auch…“. Am Ende bin ich wieder versöhnlicher – mir selbst und auch Stefan gegenüber (dem ich zwischendurch – ob der kleinen Piekser – am liebsten den Hals umgedreht hätte – aber pssst, nicht verraten 🤫😉! Und heute weiß ich ja auch, dass die Piekser genau richtig waren).

Irgendwo am Wegesrand – nachdem wir mal wieder freilaufende Pferde mit Kuhglocken😉 passiert haben – legen wir die nächste Pause ein und warten, bis die anderen uns eingeholt haben. Das Knäckebrot, das ich aus meinem Zauberrucksack hervorkrame, findet großen Anklang. Und während wir munter vor uns her knuspern, spielt Stefan ein Lied auf Youtube ab, das wir unterwegs schon einmal selbst gesungen haben – nur nicht mit ganz so viel Enthusiasmus wie die beiden Sänger 😉:

„Der liebe Gott / hat mich gefragt. Und ich hab JA gesagt. Ich hab JA gesagt. Hier zu sein / um das zu tun. Was nur ich tun kann. Was nur ich tun kann.“

Körperlich und seelisch gestärkt, nehmen wir die letzten sechs Kilometer in Angriff. Um die Strecke ein wenig abzukürzen, verlassen wir den offiziellen Camino del Norte und kommen so nach einer Weile an einen Ort, der uns stehen bleiben und schauen lässt: Irgendjemand, der den Weg vor uns gegangen ist, hat hier einen mit einem Schmetterling bemalten und einem Zitat beschrifteten Stein hinterlassen. Als ich die Worte lese, die in Französisch auf dem Stein geschrieben stehen, muss ich schlucken. Es ist ein Zitat von Victor Hugo, der u.a. auch „Les Misérables“ geschrieben hat:

“L’esprit s’enrichit de ce qu’il reçoit, Le coeur de ce qu’il donne.“
„Der Geist wird reich durch das, was er empfängt, das Herz durch das, was es gibt.“

Die Worte scheinen direkt in mein Herz zu fließen und in mir breitet sich ein ungeheures Gefühl von Dankbarkeit aus. Dankbarkeit dafür, dass ich Worte, geschrieben in einer fremden Sprache, einfach so verstehen kann. Auch das ist Reichtum für mich. Was für ein Geschenk 💛.

Die Schublade „Angst“

Mit den dann folgenden Kilometern verbinde ich allerdings weniger schöne Erinnerungen. Denn mit jedem Schritt, den wir gehen, führt der Weg steiler bergab und ich merke, wie ich immer mehr verkrampfe. Ich habe wahnsinnige Angst um mein Knie und die Worte meiner Ärztin laufen wie in einer Dauerschleife durch meinen Kopf: „Das Wandern lass besser sein. Und wenn es unbedingt sein muss, dann geh besser nur bergauf.“

„Bitte, lieber Gott, nimm mir nicht das Wandern, das mir so viel bedeutet!“ – ein Stoßgebet nach dem anderen schicke ich in Richtung Himmel und versuche gleichzeitig, auf andere Gedanken zu kommen und mein Knie möglichst wenig zu belasten. Ich kämpfe mit meinen Ängsten und bin kurz davor, in Tränen auszubrechen. Die Schublade „Angst“ ist ganz weit geöffnet. Atmen wäre jetzt gut! Tief Luft holen und die Schublade einfach wieder zumachen und abschließen. Geht nur nicht so einfach, denn mein kleiner Seelenvogel hat seinen eigenen Kopf und hält den Schlüssel gut versteckt.

Kurz vor Markina-Xemein, unserem heutigen Etappenziel, kommen wir auf einer idyllisch gelegenen Wiese für unseren Tagesabschluss zusammen. Ein paar Pferde beäugen neugierig unser Tun und es ist ein wundervoller Platz – wenn ich ihn nur genießen könnte. Wir singen das Lied, das wir eben noch vorgespielt bekommen haben, aber mir fällt es schwer, mich einzulassen und mit ganzem Herzen dabei zu sein.

Und so bleibe ich dann auch beim Aufbrechen zurück und lasse die anderen vorgehen. Innerlich wie äußerlich halte ich Abstand und kämpfe mit meinen Ängsten. Ich meine zu spüren, dass das Knie dick geworden ist und die Angst hat mich fest in ihrem Griff.

Im Ort angekommen, teilen wir uns auf: Während Martina, Susanne und Maria einkaufen, suchen Stefan und ich unsere Unterkunft, um die Schlüssel in Empfang zu nehmen und uns anzumelden.

Die Unterkunft ist ein kleines Idyll: eine Ferienwohnung über drei Etagen, mitten in den engen Gassen der Altstadt und mit einem ganz eigenen Charme. Aber bevor wir sie so richtig in Beschlag nehmen, beschließen wir, die Etappe erst noch mit einem kühlen Getränk zu beenden. Ich finde, nach 25 Kilometern und dem Auf und Ab des heutigen Tages, habe ich mir das verdient. Vielleicht möchte ich mich auch nur ablenken.

Auf jeden Fall ist eine Bar direkt um die Ecke unser Ziel und das baskische Bier schmeckt nach diesem anstrengenden Tag besonders lecker. Während wir unter dem Dach im Schatten sitzen, schaue ich noch einmal zurück auf meine letzten Pilgertouren und die Entwicklung, die sie bewirkt haben. Ich bin froh und dankbar, jeden einzelnen Weg gegangen zu sein, denn jede Tour hat mich ein Stück weiter vorangebracht, hat irgendetwas ausgelöst und mich verändert. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur die geworden, die ich immer schon war. Als ich von einer dieser (kleinen) Veränderungen erzähle, müssen wir lachen: Ich ergreife zwar immer noch nicht gerne als erste das Wort, bin aber auch nicht mehr die, die wartet, bis alle anderen gesprochen haben. Als Zweite spreche ich inzwischen schon – Na, immerhin 😉😂. Für einen Moment gelingt es mir, die Angst beiseite zu schieben.

Und dann heißt es: „Essen ist fertig!“. Es gibt Nudeln mit Gemüse und einen frischen Obstsalat. Oft sind es die einfachen Sachen, ohne viel Schnickschnack, die für den höchsten Genuss sorgen!

Nach dem Essen wird mein Knie mit Eis gekühlt und ich beginne, mich wieder in mein Schneckenhaus zurückzuziehen. Ich hätte so gerne, dass mich irgendjemand in den Arm nimmt und sagt: „Das wird wieder, Katja. Hab keine Angst.“ Aber anstatt genau das zu sagen und meine Ängste mit den anderen zu teilen, werde ich grummelig, schweige und werde so, wie ich überhaupt nicht sein mag.

Beim Durchschauen der Bilder auf meinem Handy bleibe ich an dem Foto mit den glitzernden Tautropfen hängen. TRÄNEN.REICH., ist das Wort, das mir sofort dazu in den Sinn kommt: „Wenn aus Tränen glitzernde Perlen werden…“. In Gedanken bin ich bei einer meiner Mitpilgerinnen, die stark genug ist, ihre Tränen zu zeigen und sie so in etwas Gutes zu verwandeln. In dieser Verletzlichkeit liegt so viel Stärke, so viel Mut, so viel Tapferkeit und Schönheit… Das bewegt mich tief und ich denke, „Ja, Tränen können auch eine Befreiung sein“.

Erst als ich später im Bett liege, wird mir klar, was da heute in mir abgelaufen ist. Ich bin traurig und wütend auf mich selbst – weiß aber auch, dass das Erkennen ein erster Schritt – hin zur Veränderung – ist. Ein Fünkchen Hoffnung macht sich breit. Und so beschließe ich, mich am nächsten Tag anders zu verhalten. Mich nicht mehr selbst ins Abseits zu schießen, sondern die anderen teilhaben zu lassen und ihnen zu erzählen, was mir auf der Seele liegt und warum ich mich verhalten habe, wie ich mich verhalten habe.

Ich bete, dass ich morgen die Gelegenheit bekommen werde, zu sprechen. Dass meine Stimme trägt und dass Stimme und Herz gehört werden. Mit diesem Gedanken kann ich endlich die Augen zumachen und zur Ruhe kommen.

„Werde ruhig, meine aufgewühlte Seele in mir,
werde ruhig, du verängstigtes Herz!
Werde ruhig!“

Heiko Bräuning