Camino del Norte

Etappe 8 – Colegiata de Ziortza (Monasterio de Zenarruza) – Munitibar – Gernika-Lumo

Morgenstimmung

Wow! Ich habe gut geschlafen 😊. Vielleicht hat mir der Gedanke von gestern Abend, meinen Schlafsack wie eine schützende Hülle um mich breiten zu können, ja tatsächlich geholfen. Früh wach bin ich aber trotzdem. Richtig früh, richtig wach. Also kann ich auch aufstehen und auf Entdeckungstour gehen. Vielleicht sehe ich ja sogar die Sonne aufgehen? Draußen ist es noch dunkel, ziemlich frisch und neblig-feucht. Und ruhig, sehr ruhig.

Meine Schritte führen mich über das Klostergelände in Richtung Kirche. Außer mir scheint niemand so früh wach zu sein, nur eine Katze huscht immer mal wieder vor mir über den Weg. Ob es immer dieselbe Katze ist?
Rein in die Kirche mag ich heute früh nicht, irgendwie ist mir das ein wenig unheimlich. Aber der Kreuzgang ist nach vorne offen und wird von gelblichen Lichtern ausgeleuchtet – ihn betrete ich mit langsamen Schritten. Wie viele Menschen ihn wohl schon vor mir auf und ab gegangen sind? Meine Gedanken schweifen mal hier hin und mal dorthin und ich freue mich über die Ruhe des Morgens und darüber, dass ich im Laufe des Weges schon so viel an Stärke und Kraft zurückgewonnen habe – innen wie außen. Ich bin mir selbst wieder ein gutes Stück nähergekommen und habe auch die ein oder andere Erkenntnis gewonnen. Aber mit Erkenntnissen ist das ja so: nur weil man sie hat, heißt es noch lange nicht, dass sich etwas ändert. Also stelle ich mir für heute selbst eine Aufgabe: Ich nehme mir vor, heute mit meinen Wünschen nicht hinter dem Berg zu halten. Auszusprechen, was ich möchte, was mich beschäftigt bzw. was mir auf der Seele liegt. „Mach aus deinem Herzen keine Mördergrube“… ich weiß auch nicht, warum mir gerade diese Worte in den Sinn kommen. Sie klingen gar nicht so schön, sind aber doch irgendwie treffend: Wenn ich nicht sage, was mir auf dem Herzen liegt, wird die Last immer schwerer und die Gedanken immer trüber. Aber das lässt sich ändern: Reden hilft 😊.

Ganz allmählich wird es draußen heller – aus schwarz wird erst dunkelgrau, dann blau, fast lila und schließlich hellgrau. Einen Sonnenaufgang kann ich nicht beobachten, dafür sind zu viele Wolken am Himmel. Das Licht hat aber trotzdem etwas ganz Besonderes und ich genieße es, den Blick vom oberen Ende der großen Wiese, die ich inzwischen hinaufgelaufen bin, über das weitläufige Gelände schweifen zu lassen. Hier treffe ich auch auf Christelle, die Französin von gestern. Wir wechseln ein paar Worte – wieder in einem Kauderwelsch aus Französisch und Englisch. Ich mag es, wie sie sich voller Neugier und ohne Scheu, dafür mit viel Freude dem Abenteuer Jakobsweg und v.a. den Menschen zuwendet. Nur für einen kleinen Moment sind wir gemeinsam auf dem Weg, bevor sich unsere Wege mit einem „Buen camino“ wieder trennen. Mit schnellen Schritten gehe ich zurück in Richtung Herberge, denn inzwischen ist mir ganz schön kalt und ich könnte gut und gerne eine zweite Jacke gebrauchen – aber leider ist meine Jacke über Nacht kein bisschen trocken geworden. Meine Aufwärmversuche sind auch nur wenig erfolgreich: Das Frösteln bleibt bestehen.

Die anderen sind inzwischen ebenfalls aufgestanden und Maria erzählt, dass Martina heute Nacht Besuch hatte: Eine Katze hat Zuflucht am Fußende ihres Bettes gesucht. Wie viele Katzen gibt es hier eigentlich? Na ja, auf jeden Fall gut, dass ich das nicht mitbekommen habe – ich hätte wahrscheinlich vor lauter Schreck geschrien 😱😄.

Eine etwas andere Frühstückspause

Da ein Großteil meiner gewaschenen Klamotten noch nass ist, verwandelt sich mein Rucksack heute Morgen wieder in einen wandelnden Wäscheständer: Jacke und Hose werden mit den äußeren Gurten verknotet und die Socken mit Sicherheitsnadeln befestigt. Geht doch!

Frühstück gibt es heute erst unterwegs – das hatten wir schon gestern beschlossen. Irgendwie haben wir keine Lust, noch einmal nur so eine Art durchlaufender Posten zu sein. Bis aber alle abmarschbereit sind dauert es, und so habe ich noch die Gelegenheit, einen ersten kurzen Blick auf die What’sApp zu werfen, die uns Stefan wohl gerade erst geschickt hat:

„Guten Morgen, Du Liebe! Ich hoffe, du bist heute eine Erfahrung reicher. Es gibt drei Arten des Lernens, die erste ist die Nachahmung, die zweite ist Erfahren, die dritte ist Nachdenken. Wir gehen heute den Königsweg und sehen uns mal den dritten Weg an: Nachdenken über – Persönliches Wachstum. Der Reifungsprozess der eigenen Persönlichkeit, das eigentliche innere Wachstum eines Menschen gehört zu den schwierigsten Herausforderungen im Leben. Es braucht Zeit dazu, viel Geduld, vor allem aber die innere Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln, eigene Fehler zu sehen und sich diese einzugestehen, die Verantwortung dafür zu übernehmen und zu lernen, damit zu leben.“

Was dann folgt, ist eine kurze Geschichte… Aber dazu später mehr.

Inzwischen ist mir richtig kalt und ich bin froh, dass in einer Gruppe immer irgendeiner ein Kleidungsstück übrig hat und ich mir eine Jacke ausleihen kann. Also dann: gehen wir mal los und laufen uns warm.

Noch hängen die Nebelschwaden über den Bergen, aber ganz langsam bahnt sich auch die Sonne ihren Weg durch die Wolken. Und dann heißt es plötzlich „Stopp“ und „Pssst“: Es ist Zeit für ein Frühstück – nur nicht für uns 😉. Vor uns bekommt ein Kälbchen seine Mahlzeit und zwar mitten auf dem Weg. Wir wollen nicht stören und warten eine ganze Weile, bevor wir schließlich in einem großen Bogen an den beiden Tieren vorbei gehen. Aufmerksam werden wir dabei von vielen Augenpaaren beobachtet. Aber auch wenn wir vielleicht hungrig sind, eine Gefahr geht nun wirklich nicht von uns aus 😄.

Der Tag ist gerettet

Wir sind auf einem schmalen Pfad unterwegs und mittlerweile hat sich unser Trüppchen ein gutes Stück auseinandergezogen. Der Pfad wird zum Holzsteg und der Holzsteg zur Treppe mit unregelmäßigen Stufen. Über diese geht es nach unten ins Tal, wo wir auf einer Wiese hinter einem alten Steinhaus unsere erste Pause machen. Wir starten mit ein paar Stretching-Übungen – Ich weiß nicht, ob es sich dabei um Yoga-Übungen, Qi-Gong oder Freestyle handelt, aber sie tun mir gut, bringen meinen Kreislauf in Schwung und wärmen mich vor allen Dingen auf. Anschließend erzählt Stefan ein bisschen was zum Thema des heutigen Tages – aber ich glaube, wir brauchen jetzt alle erstmal einen Kaffee.
Bevor wir aufbrechen, setze ich aber noch mein Vorhaben von heute Morgen in die Tat um und äußere einen Wunsch, den ich für heute habe. Oder na ja, eigentlich ist es ehr eine Frage: Ich frage meine Begleiter, ob sie mir wohl heute noch einmal ihre Hände auflegen würden. Mir hat das gestern so gutgetan, dass ich mir eine Wiederholung wünsche – wenn sich denn die Gelegenheit dazu ergibt.

Und dann schultern wir unsere „Wäscheständer“ 😉 und es geht weiter, vorbei an Wiesen, Weiden und ein paar Häuseransammlungen. Inzwischen scheint die Sonne ganz ordentlich vom Himmel und ich freue mich über das Zusammenspiel aus Licht und Schatten: Die schwarzen Linien und Schnörkel auf dem Boden und an den Wänden bringen mich immer wieder zum Anhalten: Ich muss schauen und schauen und schauen. Und auch ich selbst werfe lustige Schatten: Mein Schattenbild ähnelt dem eines kleinen Zwerges 😄.
In Munitibar finden wir eine Bar, die allerdings erst in einer halben Stunde aufmacht. Macht nichts, warten wir eben so lange, verdrücken bis dahin unsere allerletzten Essensreste (was bedeutet: mehr Platz für Neues 😉) und verteilen großzügig Pferdesalbe und Sonnencreme auf die entsprechenden Körperstellen: Mich zwackt das Knie, den nächsten die Schulter und der Nacken und einen erneuten Sonnenbrand möchten wir alle nicht.
Unser Warteplatz ist wohl so eine Art Dorfplatz: An einem Brunnen können wir unsere Wasserflaschen auffüllen und hinter uns sorgt der blühende, rosa Blauregen nicht nur für natürlichen Schatten, sondern auch für wunderbare Farbkontraste. Auf der anderen Straßenseite zieht die rechteckige und wuchtig wirkende Kirche San Vicente meinen Blick auf sich und vor uns die Häuser halten, wie im Sommer üblich, alle Fensterläden dicht geschlossen. An den Türen hängen ganz häufig Jesusbilder, an denen der Zahn der Zeit zum Teil ganz deutlich genagt hat.

Und dann ist es soweit: Frühstück! Wir sichern uns ein Plätzchen vor der Bar und ich halte die Stellung, während die anderen rein gehen und die Bestellung aufgeben. Als Maria aus dem Laden kommt, muss ich herzhaft lachen: die Arme bis oben hin voll mit Einkäufen und das Gesicht ein einziges Strahlen. Der Tag ist gerettet 😄. Aber das ist noch nicht alles: Nach und nach füllt sich unser Tisch mit den üblichen Kaffeespezialitäten und einem Bocadillo (belegtes Baguette) für jeden. Dazu für unterwegs Kekse, Schokolade, Obst und Gemüse, Baguette, Oliven und bestimmt noch allerhand mehr, an das ich mich jetzt nur nicht mehr erinnern kann. Wir werden also auch heute wieder nicht verhungern… 😅

Ich habe keine Eile. Ich darf verweilen.

Während wir das Frühstück genießen, wundere ich mich mal wieder, wie sehr mir das Gefühl für Zeit und Raum auf dieser Tour abhandengekommen ist. Weder weiß ich, wo ich bin (das zeigt mir erst zuhause der Blick auf die Karte), noch wie lange wir hier sitzen. Aber ich habe keine Eile. Ich darf verweilen. Was für ein Geschenk!

Los geht’s dann trotzdem irgendwann. Und wieder sind es die Farben und Formen, die mich begeistern: Die Orangen hängen an den Bäumen wie die Kugeln am Weihnachtsbaum und auch die runden, weißen Blütenstände des Schneeballbusches könnten gut und gerne Weihnachtsbaumkugeln sein. Wie schon so oft auf diesem Weg kommen meine Augen mit dem Gucken kaum hinterher.

Nach ca. sechs Kilometern erreichen wir die hübsche kleine Kapelle Ermita de Santiago Apostol de Aldaka – natürlich geschlossen, aber mit der bunten Blumenwiese vor dem Gebäude ein schönes Fotomotiv. Der Camino del Norte biegt kurz vor der Kapelle links ab, so dass wir vom Weg aus gesehen hinter der Kapelle, aber im eigentlichen Eingangsbereich, ein schönes Plätzchen ganz für uns haben: Überdacht und mit einem Tisch, den Stefan, Martina und Susanne jetzt hervorziehen. Nur ich kapier so lange nichts, bis Stefan mich anschaut, auf den Tisch deutet und sagt: „Dein Platz“. Ahhh, das Handauflegen ☺️. Maria breitet ein türkisfarbenes Tuch auf dem Tisch aus und ich darf es mir bequem machen: Ich lege mich auf den Rücken, das Gesicht im Schatten, der Körper in der Sonne. Mir werden die Schuhe ausgezogen und dann erklärt Stefan, wer, wie und wo seine Hände auflegen kann. Susanne übernimmt z. B. das lädierte Knie und Maria den Kopf. Eine Weile bleiben die Hände einfach sanft auf mir liegen, dann wird die Position gewechselt. Irgendwann spüre ich die Hände der anderen gar nicht mehr… Es ist, als ob sie eins mit meinem Körper geworden sind. Maria führt kleine Bewegungen an meinen Ohren aus und ich fühle mich irgendwie schwer und schwerelos gleichzeitig. Als alle ihre Hände gelöst haben, werden durch das Streichen über meine Arme und Beine noch einmal bestimmte Energieleitbahnen stimuliert, was den Abtransport der negativen Stoffe erleichtern soll. Ich darf noch ein bisschen liegen bleiben und mache das gerne. Wie lange? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mich Stefan am Ende anstupsen muss und mit den Worten „Hei Du, magst du zurückkommen?“ zurückholt. „Mmhhh…“ Ob ich eingeschlafen sei, werde ich gefragt. „Nein, ich war nur völlig tiefenentspannt“, antworte ich. Aber als Maria dann erzählt, dass ich irgendwelche Worte vor mich hingemurmelt habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Denn davon weiß ich rein gar nichts 🙈.

Auch Susanne und Stefan kommen in den Genuss einer kleine „Behandlung“ und ich finde das Hände auflegen mindestens so kraftvoll wie das Hände aufgelegt bekommen. Bei Susanne z. B. meine ich zu spüren, wie die Energie fließt und bei Stefan habe ich das Gefühl, seinen Atem in den Kniekehlen zu spüren. Scheinbar sowohl für den, der empfängt, als auch für den, der gibt, ein sehr kraftvoller Moment. Ich auf jeden Fall fühle mich wunderbar gelöst und gestärkt.

Nach dieser kraftvollen Pause laufen wir die paar Meter zurück zum Abzweig und biegen wieder ein auf den Jakobsweg. An der Kreuzung liegt ein Boot auf dem Trockenen und dient dem umgekippten Wegweiser als Stütze. Würde dieser ganz auf dem Boden liegen, wäre wohl so mancher Pilger an dem Abzweig vorbeigelaufen (auch ich habe ihn erst übersehen und habe während unserer Pause zwei Pilger in die falsche Richtung geschickt. Zum Glück haben die anderen mich noch darauf aufmerksam gemacht und ich konnte die beiden mit einem kurzen Sprint wieder ein- und zurückholen. Puh… 😅). Auf den nächsten Kilometern zeigt sich das Baskenland von seiner ländlichen Seite: Um uns herum ist Grün die vorherrschende Farbe und wir folgen mal wieder dem Lauf eines kleinen Baches. Ab und an treffen wir auf ein einzelnes Gehöft mit einem alten Trecker davor und dort, wo bewirtschaftet wird, stehen Feigen- und Orangenbäume.

Und dann kommt endlich mal ein Stück Jakobsweg, wie man es sich vorstellt. Gut einen Kilometer lang folgen wir dem Lauf einer Straße hinauf in den Ort Zarrabenta. Ich glaube allerdings, in der ganzen Zeit ist kein einziges Auto an uns vorbeigefahren.

Im Ort werden wir magisch angezogen von der dortigen Bar, wo wir uns wahlweise ein kühles Getränk oder ein Eis gönnen. Auf der Terrasse gibt es auch einen Brunnen, an dem wir unsere Wasserflaschen wieder auffüllen können. Gut so, denn heute ist es wirklich warm. Stefan wird von zwei Einheimischen in ein Gespräch verwickelt, weil er irgendjemandem ähnelt, der bei Volkswagen arbeitet oder gearbeitet hat. Oder vielleicht auch nur, weil er Deutscher ist. Oder, weil die beiden Redebedarf haben und der Wein die Zunge so schön lockert 😉. Auf jeden Fall bekommt er jede Menge Tipps für Orte, die wir gar nicht besuchen werden. Aber es ist lustig zuzusehen und zuzuhören, wie in einem Mischmasch aus spanisch, englisch, italienisch und deutsch ein fröhliches Hin und Her entsteht.

Weiter geht es und das Bild ähnelt dem von heute Vormittag: Hier und da ein paar Häuser, vorzugsweise mit einem dekorativen Trecker und Orangenbäumen davor, dazu ganz viel Grün und ein kleiner Bach.

Steter Tropfen höhlt den Stein

An eben diesem Bach – Gola – legen wir auch unsere nächste Pause ein. Dafür biegen wir links vom Weg ab und betreten einen kleinen verwunschenen Pfad, der uns ein wunderbar idyllisches Plätzchen schenkt. Die Bäume wachsen bis hinunter ans Wasser und sorgen mit ihrem lichten Blätterdach für ein munteres Wechselspiel aus Sonne und Schatten. Im Bach liegen Steine – zu groß und zu schwer als dass sie von der Strömung fortbewegt werden könnten. Und doch steht die Zeit nicht still und das Wasser arbeitet an ihnen, schleift sie glatt und rund, bis die Strömung wieder ausreicht, sie ein Stück weit mitzutragen. Das kann mitunter recht lange dauern und so sind einige Steine an der Oberfläche ganz dicht mit Moos bewachsen. Ich muss an einen Blogbeitrag von Stefan denken, den ich vor langer Zeit einmal gelesen habe. So wie das Wasser die Steine formt, formen all die kleinen und großen Geschichten unseres Lebens unseren Geist, unsere Seele, unseren Körper. Mal merken wir dabei kaum, dass wir uns verändern und mal arbeitet es mit großer Kraft an uns. Irgendwie ein passendes Bild für den heutigen Tag.

Grün.Gut.

Um uns herum ist Grün. Ganz viel Grün. Am Ufer des Baches wächst jede Menge Farn in die Höhe und selbst die steinerne Bogenbrücke ist in ein grünes Kleid gehüllt. Wenn dieser Tag eine Farbe hätte, dann wäre diese definitiv Grün. Keine schlechte Wahl, denke ich mir. Ist Grün doch die Farbe der Hoffnung, des Glücks und des Lebens. Außerdem fördert Grün die Kreativität, wirkt ausgleichend und gibt uns ein Gefühl der Geborgenheit. Grün schafft ein Gleichgewicht zwischen Kopf und Herz und sorgt für Entspannung. Beste Voraussetzungen also für die Arbeit an unserer Aufgabe des Tages 😊. Und so machen wir es uns auf dem Boden gemütlich, breiten unser Picknick aus und widmen uns dann ausführlich der WhatsApp von heute Morgen.

In der Geschichte, die uns Stefan geschickt hat, geht es darum, Verhaltensweisen und Denkmuster, die wir jahrelang gelernt und wiederholt haben, zu erkennen und zu ändern – was definitiv nicht mit einem Fingerschnipsen getan ist. Auch neue Verhaltensweisen wollen erlernt werden und brauchen viele, viele Wiederholungen:

1. Kapitel: Ich gehe eine Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren.
Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder hinauszukommen.

2. Kapitel: Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3. Kapitel: Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch.
Ich falle schon wieder hinein…
aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine Schuld.
Ich komme auch sofort wieder heraus.

4. Kapitel: Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch.
Ich gehe darum herum.

5. Kapitel: Ich gehe eine andere Straße.

(Von dem tibetischen Mönch Sogyal Rinpoche)

Die Aufgabe für uns lautet: Welche Geschichten aus Deinem Leben fallen Dir dazu spontan ein?

Wir nehmen uns viel Zeit, unseren Gedanken nachzugehen, ein paar Worte zu notieren und diese dann miteinander zu teilen. So unterschiedlich wie wir sind, so unterschiedlich sind auch unsere Gedanken dazu. Mal witzig und humorvoll, mal traurig und berührend, mal voller Hoffnung und Vertrauen. Es geht um Tiefkühlpizza und um Familiengeschichten, um das Gefühl der Minderwertigkeit und die Erkenntnis genau richtig und großartig zu sein.

Für mich ist diese Geschichte die logische Fortsetzung meiner Gedanken von heute Morgen im Kreuzgang des Klosters: Am Anfang steht die Erkenntnis, das Aufdecken eines Musters, das mir nicht gefällt oder nicht guttut. Aber bis ich es dann schaffe, anders zu handeln, das dauert. Oft genug schlage ich aus Gewohnheit den altbekannten Weg ein und tappe in die immer gleiche Falle. Aber ich darf Geduld mit mir haben – Veränderung braucht Zeit 🙂.

Das fünfte Kapitel neu geschrieben

Ein bisschen Mut kostete es mich dann, meine Gedanken und mein „Loch“ mit den anderen zu teilen… Aber ich habe ja auf diesem Weg immer wieder erfahren dürfen, dass es sich lohnt, mutig zu sein. Also raus damit:

Mein „Loch“, das sind Gedanken wie „Ich gehöre nicht dazu“ oder „Ich bin nicht gut genug“. Das ist die Angst, mich ausgeschlossen und alleine zu fühlen. Immer wieder falle ich in dieses Loch und so fühle ich mich in Gruppen oft unwohl und fehl am Platz. Wo ist mein Raum? Was kann ICH beitragen? Immer sind da doch andere, die schlagfertiger, witziger, interessanter, attraktiver oder einfach nur lauter sind. Manchmal komme ich mir vor wie unter einem Tarnumhang und würde am liebsten laut rufen: „Hallo, ich bin auch noch da“ – wenn ich nur den Mut dazu hätte. Stattdessen ziehe ich mich in mein Schneckenhaus zurück und werde noch stiller. Passiert mir das wieder, bin ich frustriert und ärgere mich über sich selbst. Wieso tappe ich in diese Falle und lasse den Gedanken zu? Wieso lächle ich nicht einfach und bringe mich ein? Ich merke, dass ich manchmal dazu tendiere, Situationen, in denen ich mich fehl am Platz fühlen könnte, von vornherein zu vermeiden. Zu Veranstaltungen, Terminen oder Kursen gar nicht erst hinzugehen, denn dann kann mir der Gedanke ja nichts anhaben. (Kann er natürlich schon…) Mein Kapitel 5 schreibe ich wie folgt: Ich gehe mutig voran und begegne Menschen mit dem Gedanken „Ich bin die, die ich bin und genau hier genau richtig.“

Nachdem ich meine Gedanken geteilt habe, ist es einen Moment still und dann werde ich gefragt, ob ich das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, auch in dieser Gruppe habe. Uh… ich muss schlucken. Soll ich wirklich ehrlich antworten? Ich finde ja selbst nicht sehr sympathisch, was ich da von mir preisgebe. Aber ja, ich vertraue den anderen und sage, wie es ist. Meine vier Begleiter sind ganz wunderbare Menschen, die mich von Anfang an akzeptiert und aufgenommen haben. Nie musste ich vorgeben jemand zu sein, der ich nicht mich bin oder mich beweisen oder Leistung bringen, um gemocht zu werden. Ganz automatisch war ich Teil dieser Gruppe. Und trotzdem ist da immer mal wieder dieser kleine, stachelige Gedanke, eben doch nicht dazu zu gehören. Da reicht es schon aus, dass mich Blicke nicht mit einbeziehen. Denn eigentlich möchte ich doch nichts mehr als das: Gesehen werden. Auch gestern Nachmittag, als die anderen sich für den Aufenthalt am Meer und gegen einen weiteren gemeinsamen Abend in Bilbao entschieden haben, hat der Stachel gepikst. Ich weiß, dass das völliger Nonsens ist und ich gönne den anderen die Zeit am Meer aus vollem Herzen. Aber die Angst, eben doch nur das fünfte Rad am Wagen zu sein, die bleibt.

Wieder einmal habe ich mir ganz umsonst Sorgen gemacht – meine Ängste werden nicht belächelt oder klein geredet und ich habe mich auch nicht selbst ins Abseits geschossen, sondern bekomme im Gegenteil ganz viel Zuspruch: Susanne zum Beispiel meint, dass die Welt mit mir bunter, filigraner und grandios sei. In meiner Rückreise, die ich mir ganz selbstverständlich selbst organisiert habe, sieht sie eine große Stärke: „Du bist die, die alleine reist, die organisiert, die ihr Ding macht“. Maria meint „Du gehst manchen Weg allein, weil du es kannst – und weil du es magst.“ Stefan meint mit einem Schmunzeln im Gesicht „Wie viel Schneckenhäuser du schon verlassen hast. Da liegen schon eine ganze Menge rum.“ Und dann lässt er das Bild eines Pfluges vor meinen Augen entstehen. Ein Pflug, der gerade seine Bahnen zieht. Ab und an kommt jemand zu mir und begleitet mich ein Stück. “Ich freue mich, zu dir zu kommen. Ein Stück Welt mit dir zu entdecken, Gemeinsamkeiten.“ Und Martina nimmt Bezug auf das Foto von dem Spinnennetz und den glitzernden Tautropfen: „Vielleicht bist du und sind deine Fähigkeiten diese Perlen! Und das Netz fängt dich auf und gibt dir Halt.“ 😍

Also schreibe ich mein fünftes Kapitel noch mal neu: Ich löse mich von dem Gedanken „Ich gehöre nicht dazu“, mache mich frei davon und lasse ihn zurück. Auf meinem neuen Weg brauche ich ihn nicht mehr. 😊

Wir gehen jetzt auf Löwenjagd…

Noch immer sitzen wir an diesem idyllischen Plätzchen am Bach, als wir plötzlich jemanden laut und schief singen und fluchen hören. Ich verstehe immer nur „Fu**ing camino“, aber die Situation ist so absurd und bizarr, dass wir nicht anders können als laut zu lachen. Erst jetzt bemerkt uns das junge Mädchen und dreht sich sichtlich erschrocken zu uns um: „Sorry, sorry, sorry… I thought there was no one here“. Aber ich denke, was raus muss, muss eben raus 😂.

Nach einer ganzen Weile brechen wir dann auf und setzen unseren Weg fort. Noch liegen immerhin ein paar Kilometer vor uns. Mal wieder geht es steil bergauf, um kurze Zeit später über Stock und Stein steil bergab zu gehen. Hier treffen wir auch das junge Mädchen von eben wieder: Sofia. Wie sich herausstellt kommt auch sie aus Deutschland und ist gerade dabei, in eine neue Lebensphase einzutreten. Direkt an ihrem ersten Tag auf dem Camino hat sie sich zu viel zugemutet und nun wahnsinnige Schmerzen im Bein. Den Weg geht sie sichtbar vorsichtig und mit Schwierigkeiten hinab. Wanderstöcke hat sie keine, nur einen Holzstock, der ihr als Provisorium dient. Wir versorgen sie mit Pferdesalbe und Globuli – Einsatz für Dr. Stefan, der Arzt, dem die Frauen vertrauen. Ob wir wirklich alle Ärzte und Krankenschwestern seien, werden wir gefragt. Nein, das war doch nur ein Scherz 😂. Ein Stück des Weges gehen wir gemeinsam, leisten Zuspruch und versuchen, ihr unser Verständnis vom Camino näher zu bringen: Wir sind gemeinsam unterwegs, nicht um Kilometer zu machen oder Leistung zu erbringen, sondern um zu wachsen – jede für sich und alle zusammen. Erst in Gernika trennen sich unsere Wege wieder. Wir sind am Ziel, Sofia muss noch ein gutes Stück weiter gehen. Auch später habe ich noch einige Male an sie gedacht und mich gefragt, was von unseren Gesprächen wohl bei ihr hängen geblieben und wie der Weg für sie weiter gegangen ist…

In einem kleinen Stadtpark kommen wir für den Abschluss des Tages, der so ereignisreich war, zusammen und machen uns dann auf, die letzten Meter bis zu unserer Ferienwohnung zu gehen. Die liegt oben auf dem Berg und hat, wie sich herausstellt, ein Bett zu wenig: Die erwartete Schlafcouch ist ein Sessel und zum Schlafen ungeeignet. Also bucht sich Stefan noch schnell ein Hotelzimmer und dann heißt es für uns Mädels: Waschmaschine an, Duschen und ausgehfertig machen. Denn hei, wir sind in einer Stadt 😄. Gestylt und geschminkt (Danke Maria für deine Tipps 😍) gehen wir hinunter in die Stadt und werden plötzlich wieder zu kleinen Mädchen: Fröhlich klopfen wir uns auf die Schenkel und singen ein Kindergartenlied, das uns Susanne gerade erst beigebracht hat:
„Wir gehen jetzt auf Löwenjagd und haben keine Angst. Wir haben einen großen Hut und viel Mut. Huh!“
Es macht Spaß, so albern zu sein und nach all den ernsten Themen tut es einfach nur gut, zu lachen und Spaß zu haben. Den Tag lassen wir in einer Pintxos-Bar ausklingen und es wird ein wunderschöner Abend mit leckerem Essen und leckeren Getränken und guten Gesprächen.

¡Gracias por el dia!
Eskerrik asko egunagatik!