Camino del Norte

Etappe 10 – Zamudio – Bilbao

Das Ende eines Anfangs

Nur noch 13 Kilometer bis Bilbao. Nur noch einmal aufbrechen, losgehen und ankommen – dann ist dieser Weg zu Ende. Aber ist er das? Zu Ende? Ich glaube, vieles hat auf dieser Reise erst begonnen: Manche Worte und Gedanken ließen mich stehen bleiben und innehalten. Ich hatte Zeit, ihnen hinterherzudenken und sie tief einsinken zu lassen in mir – um sie mit dem Herzen zu verstehen und festzuhalten. Ich habe Momente zu Erinnerungen werden lassen und so für mich haltbar gemacht. Nein, nach Ende fühlt sich das nicht an – höchstens nach dem Ende eines Anfangs.

Heute auf jeden Fall möchte ich noch einmal genießen und feiern: das Aufbrechen, das Gehen, das Ankommen, die Gemeinschaft, das Leben und mich. Ja, mich auch 😊. Also, los geht’s.

Und wie es los geht: mit einem ganz wunderbaren und liebevoll zubereiteten Frühstück. Heute gibt es neben Brot auch Müsli und sogar frische Ananas für uns! Und auch für geistige Nahrung ist gesorgt – bekommen wir doch heute noch einmal ein Zitat von Stefan mit auf den Weg:

“Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte.“
Michel de Montaigne.

Bei diesen Worten und dem Gedanken, mich bald von meinen Wegbegleitern zu verabschieden, habe ich mit den Tränen zu kämpfen – ich glaube, dies wird ein sehr emotionaler Tag werden. Mich haben auf diesem Weg so wunderbare Menschen begleitet, die ich in meinem Alltag wohl nie kennengelernt hätte. Ich habe Ihnen mein Vertrauen geschenkt und sie haben mir ihres zurückgegeben. Wir haben so intensiv miteinander gesprochen, wie man es nur mit wenigen Menschen kann und wir durften viel voneinander lernen. Ich bin dankbar für all die Worte, Erfahrungen und Erlebnisse, die wir miteinander geteilt haben. Und ich wünsche mir, dass nicht nur ich etwas von ihnen mitgenommen habe, sondern sie auch von mir.

Nach dem Frühstück, das wir ausgiebig genießen, heißt es dann für uns: Rucksack schultern und los… bzw. Rucksack erstmal wieder absetzen. Denn direkt hinter unserer Unterkunft auf der Wiese und unter den Bäumen starten wir gemeinsam in den Tag. Ein schönes Ritual, das ich im Laufe des Weges immer mehr liebgewonnen habe.

Bauch, Herz & Kopf

Heute geht es um uns, unsere Wahrnehmung und wie es uns im Hier und Jetzt geht. Dafür lenken wir unsere Aufmerksamkeit nacheinander auf unseren Bauch, unser Herz und unseren Kopf – die drei Zentren unserer Wahrnehmung, die jeweils für unterschiedliche Bedürfnisse stehen: Der Bauch steht für die Autonomie und das Bedürfnis nach dem eigenen Raum. Das Herz für den Wunsch nach Beziehungen und Kontakt und der Kopf möchte Sicherheit und Ordnung.

So richtig bei der Sache bin ich nicht, denn hier gibt es Bremsen und eine hat mich gerade in den Arm gestochen. Aber nach einem kleinen Standortwechsel schaffe ich es dann doch, mich zu konzentrieren bzw. in mich hineinzuhören: Mein Bauch möchte gehen – das kann ich ganz eindeutig spüren – und mein Herz freut sich auf die Gemeinschaft mit den anderen, hat aber auch ein bisschen Angst vor dem Abschied, der unweigerlich näher rückt. Bei dem Gedanken daran wird es ganz unruhig. Und der Kopf? Der ist irgendwie leer oder vielleicht auch zu voll? Auf jeden Fall sortiert er Gedanken hin und her. Ist bei dem, was war, bei dem, was ist und bei dem, was kommt.

Es ist ein Geschenk

Gemeinsam brechen wir schließlich auf und treten hinaus auf die große Straße, die quer durch Zamudio führt. Der Kontrast zwischen unserer ruhigen Unterkunft und dem Gewerbepark mit den vielen Betrieben und Autos ist gigantisch. Und so bin ich nicht böse, dass es schon kurze Zeit später noch einmal deutlich ländlicher wird – auch wenn es ordentlich bergauf geht, sich der Anstieg in die Länge zieht und es dazu auch recht warm ist. Wieder einmal gehen wir jeder im eigenen Tempo und haben dabei Zeit, den eigenen Gedanken nachzugehen oder diese auszutauschen. Als wir in ein kleines Waldstück einbiegen, taucht vor mir plötzlich ein Schild auf: Bilbao 5 km. Wie schon heute Morgen kommen in mir ganz unterschiedliche Gefühle auf: Freude und Trauer. Und ungläubiges Staunen. Nur noch 5 Kilometer? Wie kann das sein? Sind wir nicht eben erst losgelaufen? Ich freue mich auf das Ankommen und bin dankbar für die erlebte Gemeinschaft, aber bei dem Gedanken an die Trennung wird mein Herz auch ein bisschen schwer.

Während wir im Schatten der Bäume darauf warten, dass unsere Gruppe wieder komplett ist, erzählt Stefan von einer Community und Coaching-Plattform, die jeden Morgen mit einer kleinen Morning-Show gute Energie für den Tag geben möchte. Gemeinsam hören wir uns den Impuls des heutigen Tages an und der Text, der vorgelesen wird, lässt mich ungläubig aufschauen: Echt jetzt? Der passt so gut zu uns, unserer Gruppe und meinen Gefühlen und Gedanken, dass ich nur staunen kann:

“Es ist ein großes Geschenk,
mit Menschen zusammen zu sein,
die nicht darauf aus sind,
immer mehr zu haben,
sondern unterwegs sind zu sich selbst;

Menschen, die das Wesentliche suchen,
entfalten wollen, was angelegt ist;

die aufeinander hören
und voneinander lernen wollen;

die aufeinander zugehen
und für Mitmenschen einstehen;

die ihre Gefühle zeigen
und so Offenheit ermöglichen;

die herzhaft lachen können
und Trauer verstehen;

die Herausforderungen annehmen
und an ihnen wachsen;

die das Leben genießen
und für jeden Tag dankbar sind.

Menschen, die wissen,
dass sie ihrem Leben nicht mehr Tage,
aber ihren Tagen mehr Leben geben können.”

Max Feigenwinter

Wie schön es doch ist, Menschen gefunden zu haben, mit denen ich offen sprechen kann, die mich wirklich sehen und ehrlich wissen möchten, wie es mir geht. Das bewegt mich so sehr, dass ich schon wieder schlucken muss und dabei denke ich:

Unsere Gemeinschaft hat aus etwas Schönem etwas Besonderes gemacht.

Ein Ausblick und viele Einblicke

Nach einer kleinen Pause gehen wir weiter und als auf einem Wegweiser “Bilbao 3,7 km” zu lesen ist, sind wir auf dem Gipfel des Iturritxualde (Monte Avril) angekommen. Der Berg ist ein beliebtes Naherholungsgebiet direkt vor Bilbao und bietet uns einen ersten Blick auf die Ausläufer der Stadt und die grünen Hügel drumherum. Bilbao scheint eingebettet zu sein in ganz viel Grün – zumindest zu dieser Jahreszeit macht es den Eindruck. Die vielen Picknickbänke hier oben laden auch uns dazu ein, noch einmal Pause zu machen, zu essen und Gedanken zu sortieren. Eine Aufgabe gibt es diesmal nicht und trotzdem fangen wir alle an zu schreiben, zeichnen oder malen… Die einen in ihr Heft, die anderen auf Kärtchen.

Mir ist in diesem Moment ganz klar, was ich machen möchte: Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, den Abschiedsbrief an meine Mama zu schreiben. Jetzt bin ich innerlich soweit und auch der äußere Rahmen passt. Die Worte fließen nur so aus mir heraus, ebenso wie die Tränen. Es wird ein sehr emotionaler – und ich glaube auch liebevoller – Brief. Ein Brief, in dem ich mich bei meiner Mama, die ich sehr liebe, bedanke für alles, was sie mir mitgegeben hat. Es ist ein Brief, in dem ich um Vergebung bitte, weil sie wegen ihrer Demenz ins Pflegeheim musste. Es ist ein Brief, in dem ich schreibe, wie gerne ich ihr die schönen Erinnerungen zurückgeben würde – weiß ich doch um die Kraft dieser guten Erinnerungen. Es ist ein Abschiedsbrief, denn meine Mama ist nicht mehr die, die sie mal war und bleibt doch immer die, die sie ist 💛.

Nach einer Weile legen wir alle Zettel und Stift beiseite und Stefan lässt uns teilhaben, womit er sich beschäftigt hat. Er kommt noch einmal auf die Aufgabe des gestrigen Tages “5x Lob am Tag” zurück und möchte nun auch noch Martina und mir seine Worte der Wertschätzung mit auf den Weg geben. Ein Teil seiner Worte ist für mich die perfekte Zusammenfassung meines Weges, der mit so vielen Zweifeln begonnen hat und zu so etwas Schönem geworden ist: “Indem du mitgegangen bist, hast du dir etwas ganz Wertvolles geschenkt. Du hast dich dir selbst gegönnt.”

Auch Susanne hat sich noch mal dem Thema „Wertschätzung“ gewidmet und hat nun ebenfalls viele positive Worte für mich. Bei ihren Sätzen kann ich die Tränen dann wirklich nicht mehr zurückhalten. Ich fühle mich gesehen, ernst genommen und wertgeschätzt… Mit meinen Gaben, aber auch mit meinen Sehnsüchten. Und das berührt mich ganz tief.

Maria, Martina und ich haben andere Dinge zu Papier gebracht, aber auch wir lassen die anderen an unseren Gedanken teilhaben. Und so lese schließlich auch ich meinen Abschiedsbrief vor – ist er doch ein Teil meines und damit unseres Weges.

Beim Vorlesen muss ich schon wieder weinen, aber irgendwie schaffe ich es, zu Ende zu lesen. Ich weiß nicht, was mit diesem Brief passieren wird, aber es hat gutgetan, all meine Gedanken und Gefühle in dieser Sache zu Papier zu bringen und diese dann auch laut auszusprechen und zu teilen. Alles fühlt sich nun ein bisschen leichter an.

Abschied nehmen & loslassen

Wir spüren alle, dass dies ein sehr emotionaler Moment ist und sind eine Weile einfach nur still. Ich glaube, uns ist irgendwie klar, dass wir jetzt nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen können. Und so bekommen wir dann doch noch eine Aufgabe von Stefan 😉. In 2er-Grüppchen lässt er uns Fragen zum Thema Abschied beantworten – haben wir doch alle Situationen des Abschieds, des Loslassen und der Trauer durchlebt. Daran nicht zu zerbrechen, sondern gestärkt daraus hervorzugehen, ist sicher eine der großen und schwierigen Aufgaben des Lebens: Loslassen, was man liebgewonnen hat – das fällt meistens schwer. Es bedeutet Veränderung, macht vielleicht Angst. Aber Loslassen heißt auch, Verwandlung zuzulassen und bereit zu sein für einen neuen Weg. Ich glaube, da können wir viel voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen.

In unserer Aufgabe geht es um Fragen wie “Welche Abschiedsrituale kennst du aus deiner Familie?” – “Was soll den Menschen von dir in Erinnerung bleiben?” – “Wenn der Tod sprechen könnte, was würde er dir mit auf den Weg geben?”.

Manches ist leicht für mich zu beantworten. Die Rituale z. B., die je nach Art des Abschieds ganz unterschiedlich ausfallen. Ist es ein Abschied für eine kleine Weile, dann gehört eine Umarmung dazu, ein Winken und die liebevolle Aufforderung “Fahr vorsichtig und melde dich, wenn du angekommen bist.” Ohne dieses Ritual würde mir tatsächlich etwas fehlen.
Bei anderen Fragen muss ich länger nachdenken – was mir der Tod sagen würde, zum Beispiel. Vielleicht ja so etwas wie: “Geh deinen Weg”. Ich weiß nicht, warum mir gerade diese Worte in den Kopf kommen. Aber ich glaube, das ist es: “Geh deinen Weg und hab Vertrauen, das alles einen Sinn hat.”

Am Ende dieser bewegenden und tief gehenden Pause bekommen wir von Maria einen kleinen Glücksbringer in Form einer silbernen, ovalen “Münze” geschenkt und wieder kann ich nur staunen, wie alles zusammenpasst. Ohne uns zu kennen, hat sie diese mitgenommen und genau die passenden gefunden. Auf meiner “Münze” ist ein kleines Herz abgebildet und es stehen die folgenden Worte darauf: “Ich geh meinen Weg. Gelassenheit.” Ich bin sprachlos…

Ankommen & Feiern

Und dann heißt es noch einmal den Rucksack aufsetzen und Abmarsch: Ab jetzt geht es abwärts in Richtung Bilbao und schon bald eröffnet sich uns ein schöner Blick auf die Stadt mit dem Guggenheim-Museum. Es folgen ein paar Stufen, eine erste Kirche (Basilika Begoña) und immer wieder die gelbe Jakobsmuschel auf den Mauern und im Boden. Dann noch mehr Stufen und schließlich sind wir da: mitten in der Stadt. Bevor wir aber in die Kathedrale gehen, dem Ziel unserer heutigen Etappe und unseres Weges, machen wir erst noch einmal Pause vor einer kleinen Bar und stoßen zum ersten Mal an diesem Tag an. Ein paar weitere Male werden noch folgen 😉.

Ausgeruht und gestärkt nehmen wir die letzten Stufen hinab in die Altstadt in Angriff und dann stehen wir plötzlich vor ihr: der Kathedrale von Bilbao. Geweiht ist die Kirche dem Apostel Santiago und somit ist sie für uns der perfekte Ort für unseren Abschluss. Gespannt begeben wir uns in das Kircheninnere, bekommen einen Stempel in unser Heft, stellen die Wanderstöcke ab und gehen still umher. Mehr noch als der Kirchenraum, fesselt mich der Kreuzgang, der uns dann auch den passenden Rahmen für unsere „Abschluss-Zeremonie“ bietet. Dieser Moment bedeutet mir viel und ist für mich so emotional, dass ich damit zu kämpfen habe, nicht komplett in Tränen auszubrechen. Wie durch einen Schleier nehme ich die folgenden Minuten wahr. Glasklar hingegen ist die Erinnerung an den Moment, in dem wir ganz nah beieinanderstehen, beten und dann gemeinsam singen. Bei der Frage nach dem Lied wünsche ich mir das Lied “Stille” – hat es doch für mich eine ganz besondere Bedeutung. Der Klang, die Melodie, der Text – alles passt ganz wunderbar zusammen:

“Stille, komm hernieder, bring mein Herz zur Ruh. Deine Schwingen decken alle meine Wünsche zu. Nur der Eine allein soll der Wunsch meines Herzens sein.”

Als wir schließlich unsere Urkunden bekommen, bleibt kein Auge mehr trocken. Aber auch unser Strahlen ist riesengroß und gemeinsam freuen wir uns über… Uns 😃! Hand in Hand gehen wir anschließend den Kreuzgang hinunter:

ICH. DU. WIR.
FÜHLEN. TUN. SEIN.

Was für ein großartiger Moment!

Lieben wir, lachen wir, leben wir!

Wieder draußen an der frischen Luft kommt es mir vor, als ob ich in einer anderen Welt gelandet bin. Oder in derselben – nur einen Moment lang wurde diese angehalten und nun läuft sie wieder. Also erstmal tief durchatmen. Und sich den praktischen Dingen zuwenden: Meinen Wanderstöcken zum Beispiel, die ich in der Kirche klein zusammengemacht und abgestellt hatte. Und nun lassen sie sich nicht wieder ausziehen. Alle Versuche scheitern. Aber wollte ich sie am Ende der Reise nicht sowieso zurücklassen? Dann soll das wohl so sein. Sie haben mir bis hierhin gute Dienste geleistet, aber nun bleiben Sie hier in Bilbao. Vielleicht findet sie ja jemand, der Zeit und Muße hat, sie zu reparieren (das scheint so zu sein, denn als ich kurze Zeit später noch einmal an der Stelle vorbeikomme, sind sie weg 😊).

Nach einem kleinen Spaziergang durch die Gassen der Stadt und am Fluss entlang, beschließen wir noch einmal einzukehren – bevor wir uns auf den Weg zu unserer Unterkunft machen und anschließend zum Abendessen. Während wir sitzen, anstoßen, reden und die Atmosphäre und das Leben genießen, liest uns Stefan auf einmal ein Zitat vor. Keine Ahnung, wo das gerade jetzt herkommt 😉:

“Life should not be a journey to the grave with the intention of arriving safely in a pretty and well preserved body, but rather to skid in broadside in a cloud of smoke, thoroughly used up, totally worn out, and loudly proclaiming “Wow! What a Ride!” Hunter S. Thompson
(Das Leben sollte keine Reise zum Grab sein, mit der Absicht, sicher in einem hübschen und gut erhaltenen Körper anzukommen, sondern eher, um mit voller Breitseite in einer Rauchwolke reinzurutschen, völlig verbraucht, total abgenutzt und laut verkündend “Wow! Was für eine Fahrt!“)

Ja, denke ich mir. Das Leben ist selten perfekt und nicht immer läuft alles nach Plan – aber das wahre, unverfälschte, oft turbulente Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, mit Lachen und Traurigsein, mit glücklichen Momenten und tiefen Enttäuschungen, mit Gemeinschaft und Abschied ist das Leben, das wir haben – deshalb: leben wir es! Aus vollem Herzen und mit allem, was wir sind.

Lieben wir, lachen wir, leben wir! 💛