Camino del Norte
Bilbao
Wir sind da. Müssen nirgendwo mehr hin.
Ein ganzer Tag in Bilbao liegt vor mir und ich weiß nicht, ob die Freude oder die Traurigkeit überwiegt: Auf der einen Seite freue ich mich darauf, die Stadt zu erkunden. Ich freue mich auf Kunst und Kultur – und auf Shopping 😊. Auf der anderen Seite liegt über diesem Tag ein Hauch von Abschied. Ich werde mich heute verabschieden müssen, von Menschen, die mir zu Freunden wurden, vom Pilgerweg und von meiner kleinen Auszeit, von Café con leche und pintxos, von Picknick-Pausen, die Schlemmermahlzeiten glichen und von so vielem mehr. Die letzten zehn Tage sind Martina, Susanne, Maria, Stefan und ich gemeinsam ein Stück Weg gegangen und nun heißt es, den eigenen Weg einzuschlagen und weiterzugehen.
Aber bevor es soweit ist, gibt’s erstmal Frühstück in einer Bar vor der Kathedrale. Schon hier habe ich immer wieder mit den Tränen zu kämpfen und weiß nicht so recht, wie ich den Tag überstehen soll. Es sind schließlich wunderbare Melodien, die mich ins Hier und Jetzt zurückholen: An einer Straßenecke beginnt ein alter Mann, ganz in sich gekehrt, auf einer Gitarre zu spielen. Angeschlossen an einen Verstärker sind die Melodien laut genug, meine Ohren zu erreichen und sanft genug, mein Herz zu berühren. Als das Lied „Hallelujah“ erklingt, gehe ich wie magisch angezogen der Musik entgegen, schließe meine Augen und sauge diesen Moment ganz tief in mich ein.
Kunst & Kultur
Gut gestärkt machen wir uns auf den Weg in Richtung Guggenheim-Museum. Während ich am Anfang des Weges noch sehr mit meinen Emotionen zu kämpfen habe, gelingt es der Stadt schon bald, mich in ihren Bann zu ziehen. Denn Bilbao überrascht mich. Weil die Stadt so viel grüner ist als ich es erwartet hatte. So viel entspannter und so viel bunter. Der blaue Fluss, die weißen, verschlungenen Brücken, die bunten Häuser, die auffälligen Skulpturen – wieder so ein Tag, an dem ich mit dem Schauen nicht hinterherkomme.
Stefan geht bald schon seinen eigenen Weg, aber wir vier Mädels bleiben zusammen und stehen kurze Zeit später direkt vor dem Guggenheim-Museum. Die Architektur zieht mich sofort in den Bann. Auch hier erklingt Musik und wir können nicht anders, als uns an den Händen zu fassen und ein paar Schritte zu tanzen. Gänsehaut!
Auch das Museum selbst ist fesselnd – architektonisch wie inhaltlich. Spannend finde ich z.B. die Gemälde der ghanaisch-britischen Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye. Ihre Porträts sind ausdrucksstark und lassen mich Geschichten hinter den Gesichtern erahnen.
Schnell aber sind wir gesättigt von so viel Kunst und Kultur – dafür macht sich ein anderer Hunger breit 😉. Wieder draußen an der frischen Luft und im Sonnenschein, finden wir eine Bar mit freien Plätzen draußen und gehen noch einmal unserem Ritual nach: „Tres café con leche, un café americano con un poco de leche y cuatro jugo de naranja.“ Dazu ein paar pintxos und die Welt ist in Ordnung!
Viele Tränen und ein bisschen Gelassenheit
Na ja, fast in Ordnung – denn der Moment des Abschieds kommt immer näher und mir fällt es immer schwerer, meine Tränen zurück zu halten. Irgendwann geht es dann nicht mehr und kurz bricht es aus mir heraus. Aber noch bin ich nicht alleine und mit Hilfe von Maria gelingt es mir noch einmal, mich zusammenzureißen und in den Moment zurück zu kehren. Auch das leckere Eis, das wir uns gönnen, trägt vielleicht einen Teil dazu bei 😉.
Aber dann ist es wirklich soweit: In einem kleinen Park treffen wir Stefan wieder und nehmen Abschied voneinander. Während die anderen mit dem Bus ihr Ziel am Meer ansteuern, werde ich mein Hostel aufsuchen, um dann Morgen ganz früh zurück in Richtung Heimat zu fliegen. Einigermaßen gefasst überstehe ich die Umarmungen und den Abschied mit den liebevollen Worten – aber dann laufe ich quasi tränenblind zurück in Richtung Fluss und Zentrum. Mir fällt der Abschied diesmal so unglaublich schwer, obwohl ich weiß, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden.
Ich merke, dass ich nicht einfach so weiterlaufen kann, sondern einen Moment brauche, um mich zu beruhigen und um wieder nach vorne schauen zu können. Deshalb suche ich mir zuallererst ein ruhiges Plätzchen am Fluss und entschließe ich mich dazu, meine Freundin anzurufen, die den Camino del Norte im letzten Jahr gegangen ist. Ich brauche jetzt jemanden, der bei mir ist – wenn auch nur am Telefon. Jemanden, der mich versteht und mit dem ich mich austauschen kann. Und mit dem ich lachen kann. Auch während unseres Telefonats muss ich immer mal wieder weinen, aber das Gespräch hilft mir, mich auf die schönen Erlebnisse zu fokussieren und nach vorne zu blicken. Schon bald werden wir uns treffen und Bilder und Erinnerungen austauschen. Darauf freue ich mich!
Da ich nun wieder etwas klarer sehen kann 😉, fühle ich mich auch in der Lage, mein Hostel aufzusuchen. Dieses ist relativ neu, schlicht, aber liebevoll gestaltet. Ich habe ein Bett in einem Mehrbettzimmer gebucht und die Betten sind Kojen mit Vorhängen, die ein klein wenig Privatsphäre ermöglichen. Die Wertsachen kann man in abschließbaren Boxen verstauen und so leere ich meinen Rucksack, um mit leichtem Gepäck noch ein bisschen durch die Stadt zu streifen. Ich lenke mich ab mit Shopping und schaffe es tatsächlich, eine Zeit lang auf andere Gedanken zu kommen. Bei meinem Streifzug durch die Stadt stelle ich fest, dass Bilbao musikalisch ist. Schon lange habe ich nicht mehr so vielen Straßenkünstlern beim Musikmachen zugehört. Vom alten Mann, der wunderbare Melodien auf der Gitarre spielte bis zum jugendlichen Rapper – da ist heute alles dabei und überall bleibe ich gerne stehen und höre einen Moment lang zu. Ich lasse mich berühren von den leisen und lauten Tönen. Von den Melodien, dem Rhythmus und der Atmosphäre.
Zurück im Hostel gönne ich mir eine Pizza und ein Glas Wein und nutze die Zeit, ein paar Nachrichten zu schreiben. Beim Schreiben kommen mir immer wieder die Tränen und meine Finger lassen die kleine Münze, die ich von Maria bekommen habe, kaum mehr los: Gelassenheit – ich geh meinen Weg. Genau diese Gewissheit brauche ich jetzt. Mir kommt das Zitat von Martin Luther in den Sinn, dass wir an einem der letzten Tage mit auf den Weg bekommen haben und ich finde, gerade jetzt passt es hervorragend:
„Das Leben ist kein Sein, sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“
Zurück auf meinem Zimmer, bin ich froh, mich hinter meinen Vorhang zurückziehen zu können und versuche, in den Schlaf zu kommen. Richtig gelingen will es mir nicht.
Mil gracias!
Am nächsten Morgen geht es dann in aller Frühe mit dem Bus zum Flughafen nach Bilbao. Ich bin aufgeregt und immer noch in einer komischen Stimmung. Aber die Aufregung bezüglich des Rückfluges und des Umsteigens in Paris überwiegt heute Morgen.
Während ich am Flughafen Bilbao auf den Flug warte, der mich erst nach Paris und dann nach Düsseldorf bringen wird, nehme ich leise Abschied von den letzten Tagen und dabei kommen mir Worte von Rilke – einem meiner Lieblingsdichter – in den Sinn:
„Tage, wenn sie scheinbar uns entgleiten, gleiten leise doch in uns hinein,
aber wir verwandeln alle Zeiten, denn wir sehnen uns zu sein.“
Auch diese Worte finde ich wunderbar passend, denn die letzten Tage sind zwar wie im Flug vergangen, aber definitiv in mich hinein geglitten. Diese zehn Tage waren so intensiv und hatten Raum für so Vieles: für die Leichtigkeit und das Lachen genauso wie für die Trauer und die tiefen Gespräche. Ich habe neue inspirierende Menschen kennengelernt, die ich aus meinem Leben gar nicht mehr wegdenken mag. Aber das muss ich ja zum Glück auch nicht.
Und ja, wir haben die Zeit verwandelt, indem wir einfach da waren, da sein durften.
Ich. Du. Wir.
Fühlen. Tun. Sein.