Camino del Norte

Etappe 2 – Postigu Nekazalturismoa (unsere Unterkunft irgendwo in den Hügeln des Baskenlandes) Pasaia – Pilgerherberge Zwölf Stämme

Film ab. Ton an.

Heute Morgen bin ich schon früh wach, und beschließe aufzustehen und mich mit einer Tasse Kaffee und meinem Notizbüchlein auf die Terrasse zu setzen.

Der neue Morgen erwacht langsam zum Leben und von meinem Logenplatz aus habe ich den allerbesten Blick auf die Leinwand dieses Freiluftkinos: Der Himmel und die Wolken färben sich im Licht der aufgehenden Sonne gelb, orange und lila und während ich dem Spiel der Farben zuschaue, werde ich innerlich ganz ruhig. Dabei ist es draußen alles andere als ruhig: Das Trillern der Vögel, das diesen Film untermalt, steigert sich gerade in einem gewaltigen Crescendo zu einer urwaldähnlichen Lautstärke. Und dennoch ist es so, als ob ich durch die Geräusche hindurch in die Stille hineinfinde.

„Vor lauter Lauschen und Staunen sei still, du mein tieftiefes Leben. Dass du weißt, was der Wind dir will, eh noch die Birken beben.“

Dieses wunderschöne Gedicht von Rilke kommt mir in den Sinn, in dessen weiteren Verlauf es heißt:

„Und dann meine Seele sei weit, sei weit, dass dir das Leben gelinge.“

Ein guter Wunsch für diese zweite Etappe auf dem Camino del Norte, die heute mit einigen Höhenmetern und vielen schönen Ausblicken auf uns wartet. Aber noch genieße ich einfach in aller Ruhe den Morgen. Auch Stefan ist inzwischen hier draußen und hat uns bereits das Thema / die Aufgabe des Tages geschickt:

„The big five for life“

„Guten Morgen Du Liebe! Schön, dass wir heute zusammen ein Stück Lebensweg gehen 😀. Lass uns was richtig Tolles daraus machen.“

Heute geht es um das, was wesentlich im Leben ist.

„The Big Five“ – das sind die fünf Tierarten, die zum Höhepunkt jeder Safari in Afrika zählen: Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Auf das Leben übertragen sind „The big five for life“ die Dinge, die am Ende wirklich zählen. Entwickelt wurde die Idee von John Strelecky.

„Was sind die „großen Fünf“ – die Museumstage – deines Lebens? Welche Tage haben sich am Ende deines Lebens als Ausstellungsstücke in deinem Museum angesammelt?“ werde ich gefragt. Verbunden mit der Frage ist die Aufgabe, über den Tag hinweg ein paar Dinge zu sammeln, die genau für diese Tage/Werte stehen und mit ihnen eine Art Museumsführung durch das Museum meines Lebens zu gestalten.

Au Backe

Nach und nach trudeln auch die anderen ein und in einer kleinen Yoga-Einheit greifen wir gemeinsam nach den Sternen – oder nach dem Licht ☀️😀 – und machen uns startklar für den Tag.

Beim Frühstück sprechen wir über das Thema des Tages und als Beispiele für die „großen Fünf“ werden Ereignisse wie Hochzeit, Geburt oder Taufe der Kinder oder besondere Tage in der Partnerschaft genannt.

„Au Backe… „, denke ich, „…das kann ja heiter werden“ und merke, wie sich alles in mir verkrampft und verschließt. Denn diese Ereignisse habe ich nicht erlebt. In mir sträubt sich alles gegen diese Aufgabe und ich rutsche in eine Art Verweigerungshaltung: „Kann ich nicht, will ich nicht, mache ich nicht!“

Wie gut, dass wir erstmal loslaufen…

Von unserer Casa rural geht es zurück auf den Jakobsweg – nicht ohne, dass wir ordentlich in Schwitzen kommen, denn es geht bergauf. Ein schönes Fotomotiv bietet uns der Einstieg in den Kreuzweg, der auf den Berg Jaizkibel und zur Wallfahrtskirche Nuestra Señora de Guadalupe führt: Die querliegenden Treppenstufen und der so gleichmäßig in die Höhe wachsende Bambus bilden einen wunderbaren geometrischen Kontrast. Dicht an dicht stehen die meterhohen Rohre des Bambus, an deren Ende die Blätter ein grünes Dach bilden. Vorbei an einer Kapelle – leider geschlossen – kommen wir zur Kirche, die der Schutzpatronin von Hondarribia geweiht ist. Diese ist geöffnet und eine offene Kirche können wir uns nicht entgehen lassen, so dass wir einen kurzen Blick hineinwerfen. Schon kurze Zeit später sind wir aber wieder draußen und genießen die Aussicht vor der Kirche.

Das nächste Stück Weg ist steil, richtig steil. „Man oh man“, denke ich und dann denke ich gar nichts mehr, sondern konzentriere mich nur noch darauf, einen Schritt vor den anderen zu setzen und irgendwie oben anzukommen. Das klappt sogar ganz gut und so öffnet sich schon kurze Zeit später der Blick auf das tiefblaue Meer und einen wunderschönen Kamm-Pfad. An einem alten Wehrturm machen wir Pause, stärken uns und wenden uns dann unseren „big five for live“ zu. Einfach mal runterschreiben, was die großen Ereignisse in unserem Leben waren, sollen wir und wieder werden Beispiele aus dem Familienleben genannt. Und das piekst mich ganz schön. Ich lebe allein und habe all das nicht erlebt. Bin ich deshalb weniger wert? Nicht normal? Oder bin ich womöglich gar nicht liebenswert? Während die anderen schreiben, bringe ich kein Wort zu Papier. Ich beginne, mich von den anderen zu isolieren – auch räumlich – und bin wütend. Wütend auf mich selbst und diese doofe Aufgabe. Die alten Ängste kommen wieder hoch und ja, ich bin auch ein bisschen traurig. Immer wieder kommen mir die Tränen, die ich ungeduldig und ärgerlich wegwische. Ich kann so gut allein sein, genieße das auch oft genug, wünsche mir aber mindestens ebenso oft einen Menschen an meiner Seite, mit dem ich mein Leben teilen kann.

Was nun? Merken die anderen, was mit mir los ist? Aber nein – das habe ich ja inzwischen gelernt: Wenn mich etwas bedrückt, muss ich es schon aussprechen. Keiner kann in mich reinschauen und wenn ich mich in mein Schweigen zurückziehe und alles mit mir selbst ausmache, bestrafe ich mich damit nur selbst. Auf die Frage, wie es lief, antworte ich also ganz ehrlich: „Beschissen!“. Da wir uns nun schon ein bisschen kennen, kann ich hier und jetzt auch das erzählen, wozu mir sonst vielleicht der Mut gefehlt hätte. Ja, es tut gut, sich etwas von der Seele zu reden. Das macht die Situation vielleicht nicht einfacher, aber doch leichter. Wir reden und reden und ein bisschen beginnt sich alles gerade zu rücken. Keine Lebensform ist schlechter oder weniger wert als die andere. Ich werde als starke und mutige Person mit Blick für die Details und die Natur wahrgenommen – bei den Worten der anderen wird mir ganz warm ums Herz.

Das Zitat, das wir heute mit auf den Weg bekommen haben, lautet übrigens:

„Um ganz wir selbst zu sein, müssen wir unser wahres Selbst zulassen, so einfach ist das. Es liegt nur an uns, wenn es schwer scheint.“ John Strelecky

Passt irgendwie…

Gehen, einfach gehen

Nach dieser intensiven Pause kann ich die nächsten Kilometer gelöster und leichter in Angriff nehmen. Ich bin etwas losgeworden, das mich bedrückt und schwer gemacht hat. Der Kamm-Pfad führt uns über den alternativen Camino del Norte, der ein bisschen näher am Meer verläuft und wunderschöne Ausblicke zu bieten hat. Wir laufen mitten durch eine große Herde an Pferden, die hier oben jede Menge Freiraum haben. Und so tollen die Fohlen voller Lebensfreude umher, während die älteren Tiere gemütlich grasen.

Nach 6 km und bei 545 Höhenmetern haben wir den höchsten Punkt des Berges Jaizkibel und der heutigen Etappe erreicht. Von nun an geht’s bergab. Wieder ist es ein alter Wehrturm, an dem wir Pause machen und die Reste des gestrigen Abendessens und alles, was unsere Rucksäcke sonst noch hergeben, verzehren.

Die folgenden Kilometer ist dann gehen angesagt. Einfach gehen. Die Wege sind schmal und holprig und so läuft jeder für sich und ich habe Zeit, meine Gedanken nun doch endlich auf die „big five“ meines Lebens zu lenken.

Es geht hinab Richtung Pasaia Donibane und die ersten Blicke auf das kleine Fischerdorf sind einfach nur zauberhaft: Das Meer leuchtet blau und türkis, strahlend weiße Boote dümpeln in der Sonne, während ein großer Frachter die kleine Bucht verlässt. Wir gehen immer weiter hinab in den Ort und hier unten ist Lebendigkeit: Die Cafés sind gut gefüllt und auch wir suchen uns einen freien Platz vor einem der Cafés. Inzwischen haben wir alle einen gehörigen Sonnenbrand – der Wind und die Wolken haben uns die Sonne nicht merken lassen. Trotzdem genießen wir die Pause draußen und den Blick auf die Häuser mit den bunten Balkonen und auf den kleinen Hafen.

Ausgeruht machen wir uns auf den Weg durch den Ort zu einem kleinen Supermarkt. Verlaufen kann man sich hier nicht, denn Pasaia hat nur eine einzige größere Straße, die den Ort von Norden nach Süden durchquert. Eine schmale Straße, die per Ampelregelung immer nur in eine Richtung befahrbar ist. Man muss unter Umständen also Geduld mitbringen – zumindest, wenn man mit dem Auto unterwegs ist.

Zu Fuß kommen wir gut voran und finden in dem kleinen Supermarkt alles, was wir brauchen. Wieder zurück im Ort bringt uns ein kleines Motorboot über die fjordähnliche Flussmündung in das gegenüberliegende Fischerdorf Pasaia San Pedro. Der Weg führt hier zunächst entlang des Hafens, wo große Gemälde mit Szenen aus dem Fischerleben die Hausfassaden verschönern und dann über eine steile Treppe nach oben.

Hier oben erwartet uns ein schöner großer Picknick-Platz, den wir nutzen, um den anderen Einblicke in unsere Museumstage zu geben.

Museumstage

Während meine Mitpilger sich mit Kreide und Steinen groß auf dem Boden austoben, bastle ich aus den Seiten meines Notizheftchens ein kleines Miniatur-Museum. Die Idee ist mir erst unterwegs auf den letzten Metern gekommen, aber ich finde, sie passt zu mir und meinen Ereignissen/Themen. Maritim angehaucht sei mein Museum, wird Stefan später sagen. Aber das ist ja auch kein Wunder, haben die weiten Blicke übers Meer und die kleine Bucht, der Hafen und der Leuchtturm von Pasaia doch den heutigen Nachmittag geprägt.

Darf ich vorstellen, mein Museum:
Da ist der Leuchtturm, als Symbol für den sicheren Hafen. Ich bin in einem sehr behüteten Elternhaus aufgewachsen. Meine Eltern haben mich immer spüren lassen, dass sie mich lieben und mir die Gewissheit gegeben, dass ich zurückkommen kann und einen sicheren Hafen anlaufen kann. Gleichzeitig haben sie mich aber auch ziehen lassen und mir die Sehnsucht nach fernen Ländern und nach Weite mitgegeben.

Das kleine Boot steht für mein Jahr als Au-pair in Norwegen. Für den Mut, aufzubrechen und Neuland zu erkunden. Aber auch für die Reisen und das immer wieder neu aufbrechen. Für das Wagen. Für das Raus ins Leben. Für das Anmelden der Freiberuflichkeit. Für Momente und Erinnerungen. Für die Freiheit.

Der Anker wird ausgeworfen, um in der Tiefe Halt zu finden und ist das Symbol dafür, dass ich jederzeit selbst bestimmen kann, wo ich an Land gehen möchte. Wo und mit wem ich Zeit verbringe. Wo ich meinen Anker auswerfe.

Der Stein steht für das, was ich loslassen und über Bord werfen kann. Nicht alles muss ich auf ewig mit mir rumschleppen. Manche Ansichten und Glaubenssätze dürfen über Bord gehen und mein Boot darf leicht sein.

Die Wellen stehen für all das, was kommt und geht. Für das, was mich mal überspült und mal mit hinauszieht, mal Dinge glattschleift und mal etwas freilegt.
Das sind die Krankheiten in der Familie, der Tod von Erik und von meinem Papa, die Demenz meiner Mama: All das hat mich eine Zeit lang überspült, aber untergegangen bin ich nicht, sondern die Wellen haben mich wieder freigegeben.
Aber die Wellen stehen auch für Positives. Für die Geburt meiner Nichten und ihre Entwicklung. Ihre Lebendigkeit und ihr Vertrauen. Ihre mitreißende Art… Manchmal ziehen sie mich einfach mit und ich tauche ein ins kalte Wasser und fühle mich lebendig.

Nachdem ich die anderen durch mein Museum geführt habe, bekomme ich von Susanne eine Rückmeldung, die ich mir am liebsten groß ausdrucken und übers Bett hängen möchte: „Ich glaube, dass du der Leuchtturm bist, der für andere strahlen kann und ich hoffe, dass du das auch sehen kannst.“

Ja, ich habe mir heute selbst Steine in den Weg gelegt und zunächst nur das gesehen und gehört, was ich sehen und hören wollte. Das weiß ich inzwischen. Aber zum Glück habe ich es geschafft, diese Steine als Tritttstufen zu benutzen und so an Weitsicht zu gewinnen.

Die restlichen zwei, drei Kilometer führen über einen schönen, kleinen Pfad mit herrlichen Ausblicken.
Trotzdem bin ich froh, als wir in unserer Pilgerherberge ankommen. Geführt wird diese von einer christlichen Gemeinschaft, die sich die „Zwölf Stämme“ nennt. Es war ein langer Tag, heiß und intensiv. Abkühlung bietet die Dusche, die heute nur kaltes Wasser im Angebot hat: Der Boiler ist defekt. Ist aber nicht weiter schlimm und dafür ist die Versorgung ganz wunderbar: Wir bekommen ein leckeres Abendessen mit frisch gebackenem Brot serviert und werden äußerst gastfreundlich bewirtet. Ein bisschen altmodisch scheint mir das Frauenbild der Gemeinschaft zu sein und die Mitglieder, die nicht mit den Gästen zu tun haben, wirken scheu und zurückhaltend. Aber alle sind sehr freundlich zu uns und begegnen uns mit Wertschätzung. Wieder zuhause lese ich allerdings einiges über diese Glaubensgemeinschaft, das mir so gar nicht gefällt. Ich weiß nicht, was davon stimmt und aktuell ist, aber ein komisches Bauchgefühl bleibt.

Heute Abend aber schlafe ich erstmal ein mit dem Gedanken, dass dieser Tag einen Platz in meinem Museum erhalten wird. 🙂